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Was bleibt? Wir schauen zurück und blättern nach vorne

Dieser Blog war unser Geschenk an euch! Vor 10 Jahren wurden 111 Pfahlbauten um die Alpen in die UNESCO-Welterbeliste eingeschrieben. Pfahlbauten (palafittes) standen am oder im Wasser und wurden während der Jungsteinzeit (5000 bis 2200 v. Chr.) und der Bronzezeit (2200 bis 800 v. Chr.) gebaut. Hatte man damals schon grossen Hunger? Auf jeden Fall. Und wurde schon kreativ gekocht?  Bestimmt!

Das PalaFitFood-Team

Ein Jahr PalaFitFood mit euch ist zu Ende. Jetzt schauen wir zurück und fragen uns: Was bleibt von all den Blogbeiträgen, Pfahlbauer*innen-Rezepten, Recherchestunden und euren Rückmeldungen?

  • Eine Reise in die Zeit der Pfahlbauer*innen, bei der wir viele neue Geschmacksentdeckungen, unbekannte Zutaten und spannende Kombinationen kennengelernt haben.
  • Kulturpflanzen und Nutztiere, welche Menschen in unserer Gegend seit 7’500 Jahren hegen und pflegen.
  • Eine viel zu wenig beachtete Vielfalt an Wildpflanzen, Beeren, Nüssen und Früchten voller Geschmack, Vitamine und Mineralstoffe.
  • Die Kenntnisse der Zubereitung.
  • Das Staunen über die frühere Abhängigkeit von Wetter, Klima und Schicksalsschlägen.
  • Der grosse Aufwand und die Planung, die es brauchte, um im Winter nicht zu hungern.
  • Die Überzeugung, dass auch die Pfahlbauer*innen gerne gut gegessen haben.
  • Die Erkenntnis, wie viele heute selbstverständliche Lebensmittel erst nach den Pfahlbauer*innen, durch die Römer*innen oder nach der Entdeckung Amerikas, den Weg in unsere Kochtöpfe fanden.
  • Die tiefe Wertschätzung für die Vielfalt und die Menge an Lebensmitteln, die wir heute ständig zur Verfügung haben.
  • Die Dankbarkeit für moderne Lebensmittelkontrollen und die Erfindung von Kühlschrank, Tiefkühler, Weckglas und Konservendose.
  • Die Faszination Pfahlbauten, welche einen unglaublich vielseitigen, tiefen Einblick in den Alltag während der Jungsteinzeit und Bronzezeit ermöglichen.
  • Die Freude am Kochen, Fotografieren, Rezepte entwickeln und Ausprobieren.
  • Die Sammelausrüstung im Rucksack bei jedem Ausflug.
  • Die Karte mit den nächstgelegenen Vorkommen von Holunder, Schlehe, Sauerampfer oder Gemüselauch im Kopf.
  • Der geöffnete Blick für alles, was um uns herum wächst.
  • Der intensive Austausch untereinander.
  • Die vielen positiven Rückmeldungen und die neuen Kontakte mit euch, liebe Leser*innen.

Ab sofort gibt es nicht mehr jeden Sonntag einen neuen Blog und dazu passende Rezepte. Aber all das, was wir in diesem Jahr an Wissen zusammengetragen haben, die besten Rezepte von uns und jene aus den monatlichen Challenges von euch, sammeln wir nun in einem Buch. Es soll Archäofacts und leckere Gerichte vereinen, wie sie die Pfahlbauer*innen der Jungsteinzeit und Bronzezeit gegessen haben könnten.

Danke an alle, die uns unterstützt haben mit Rat und Tat, vor und hinter den Kulissen. Und danke an euch, liebe Leser*innen und Pfahlbauköch*innen.

Portrait Simone Benguerel
Portrait Renate Ebersbach
Portrait Markus Gschwind
Portrait Franziska Pfenninger
Portrait Katharina Schäppi

Der Jahrtausende alte Kult ums Essen

Wir feiern Weihnachten: Heute für viele ein gemütliches Zusammensitzen an einem reich gedeckten Tisch mit festlichem Menu, Musik, Geschenken und der einen oder anderen Familientradition. Wir wissen nicht, ob die Menschen bereits vor Jahrtausenden ein ähnliches Fest gefeiert haben. Es ist aber kein Zufall, dass das christliche Weihnachten um die Wintersonnenwende stattfindet – also am Tag, wo die Sonne am Mittag die geringste Höhe über dem Horizont hat. Der Kirchenvater Augustinus legte im 4. Jahrhundert den Geburtstag von Jesus Christus auf den 25. Dezember und machte damit aus dem heidnischen Fest für Sol invictus – den unbesiegten Sonnengott – ein christliches Fest.

Winterstimmung an einem See.

Übrigens ist Weihnachten nicht der einzige christliche Feiertag, der bereits einen vorchristlichen Vorgänger hat und mit dem astronomischen Kalender in Verbindung steht. Dieser hatte gemeinsam mit dem Wechsel der Jahreszeiten seit Urzeiten einen grossen Einfluss auf das tägliche Leben und auch auf die Menuplanung. Die Menschen beobachteten die Gestirne, die Sonne und den Mond sehr genau. Daraus konnten sie z. B. ablesen, wann Zeit für die Aussaat war. Besondere Funde wie die Himmelsscheibe von Nebra sind Zeuge davon. In der Archäologie gibt sogar einen Fachbereich, der sich mit Astronomie in archäologischen Kontext auseinandersetzt: Die Archäoastronomie.

Himmelsscheibe von Nebra. Die Scheibe aus Bronze und Gold symbolisiert die während eines ganzen Jahres auftretenden astronomischen Zeichen. CC BY 3.0

Doch wie sieht es mit Festen in den Pfahlbaudörfern aus?

Hoch die Tassen

Eine besondere archäologische Entdeckung gelang beim Seckenberg im aargauischen Fricktal. In einer flachen Grube fand man verbrannte und zerbrochene Gefässe, besonders Becher, Schalen und einige Vorratsgefässe aus der Spätbronzezeit. Kochtöpfe fehlen. Offensichtlich waren die Gefässe zerschlagen und ins Feuer geworfen geworden, bevor sie in einer Erdgrube entsorgt worden sind. Handelt es sich hier um die Reste eines üppigen Trinkgelages? Neben dem gemeinsamen Bechern und Feiern ist uns heute ja auch noch das Zerschlagen von Geschirr als feierlicher Akt bekannt – Scherben bringen bekanntlich Glück. Vielleicht ist aber auch nur eine Sauferei aus dem Ruder gelaufen …

Eines der zerschlagenen Gefässe vom Seckeberg (CH). CC BY 4.0, Béla Polyvàs, Kantonsarchäologie Aargau, bearbeitet

Offenbar fand die Fricktaler Feier ausserhalb eines Dorfes auf einer Anhöhe statt. In anderen Regionen sind von vergleichbaren Höhenlagen über Jahrhunderte genutzte Kultorte bekannt, sogenannte Brandopferplätze. Hier zeugen dicke Ascheschichten mit zerbrochenem Geschirr, verbrannten Tierknochen aber auch Waffen und Schmuck von rituellen Handlungen. Gerade Tierknochen in Gruben lassen sogar das einzelne Tieropfer nachvollziehen. Meistens stammen diese aber aus der nachpfahlbauzeitlichen Eisenzeit.

Feststimmung auf dem Seckeberg: Nach dem Essen zerschlägt und verbrennt die Gemeinschaft das Geschirr. CC BY 4.0, Lebensbild von Mischa Baldachin, Kantonsarchäologie Aargau

Ein Schluck auf den letzten Weg

Gefässe waren in den Gräbern seit der ausgehenden Jungsteinzeit üblich, in der Spätbronzezeit finden sich sogar ganze Geschirrsätze. Es ist denkbar, dass man Verstorbenen einen Teil der Küchenausstattung mit in die Anderswelt mitgegeben hat – einen Kochtopf kann man ja immer brauchen. Auffallend häufig handelt es sich aber um kleine Trinkgefässe, reich verzierte Flaschen und Amphoren, die zum Aufbewahren von Flüssigkeiten dienten, oder Schalen zum Servieren von Essen. Wollte man den Verstorbenen Proviant für den Weg ins Jenseits mitgeben, glaubte man an ein (ewiges) Gelage nach dem Tod oder ist es schlicht das Geschirr von der Totenfeier, die man im Grab oder der Urne niederlegt? Dieser Brauch jedenfalls zeugt von einer Jenseitsvorstellung und macht deutlich, dass Essen weit mehr als nur schlichte Nahrungszufuhr war.

Bronzezeitliches Urnengrab mit kleinen Gefässen, die in die Urne gelegt wurden. © K. Schäppi, KASH
Blick in eine bronzezeitliche Urne mit verbrannten Knochen und zwei Gefässen. © Jonas Hänggi, Museum zu Allerheiligen, bearbeitet

Krafttiere und spirituelle Energien

Du bist, was du isst – hast du das auch schon mal gehört? Damit ist gemeint, Lebensmittel zu sich zu nehmen, die einem guttun. Aber nicht nur das; dahinter steckt zudem die Idee, dass man Körper und Geist durch die Nahrung beeinflussen und formen kann.

Gerade einigen Tierarten misst man heute eine besondere Bedeutung zu. Man kann sich nur ihre Rolle in bekannten Märchen vor Augen führen: Bären sind stark und eigenwillig, Wölfe heimtückisch und klug, Schwäne schön und tugendhaft, Hirsche majestätisch und ein Symbol für Männlichkeit. Die Liste könnte man fast beliebig fortsetzen. Kann man mit dem Fleisch oder dem Blut dieser Tiere auch deren Eigenschaften aufnehmen? Mehr noch, wenn man bestimmte Körperregionen verzehrt? Ob die Menschen vor Jahrtausenden von Jahren daran geglaubt haben, können wir archäologisch nur schwer fassen. Darstellungen von Wasservögeln auf Gefässen, Rasiermessern, Schlüsseln oder Miniaturwagen mit Sonnenscheiben lassen auf deren symbolische Bedeutung als Vermittler zwischen den Welten schliessen. War Entenbraten also schon vor Jahrtausenden ein Festessen mit besonderer Bedeutung? Hat man sich mit dem Rinderbraten auch die Kraft des Tieres einverleibt? Sauber abgetrennte Hörner von Hausrind, Ziege, Ur und Wisent, die Archäolog*innen nahe bei den Hauswänden in Arbon-Bleiche 3 gefunden haben, waren wohl mehr als nur Dekoration. Vielleicht dienten sie zum Schutz der Häuser und ihrer Bewohner*innen.

Bukranium von der Pfahlbaufundstelle Arbon-Bleiche (CH). © D. Steiner, AATG, bearbeitet

Aus derselben Pfahlbausiedlung am Bodensee stammen über 150 Schulterblätter mit auffälligen Brandspuren. In Osteuropa nutzen Schamanen heute noch Schulterblätter als Hilfsmittel bei Wahrsagungen (Scapulamantik oder Omoplatoskopie). Experimente zeigen, dass die Brandspuren nicht bei der normalen Essenszubereitung entstehen, sondern nur, wenn man auf den Knochen ein kleines Feuer entzündet.

Grillausstattung oder Kultgegenstand?

In spätbronzezeitlichen Fundstellen kommen immer wieder längliche Tonobjekte mit zwei Spitzen zutage; sogenannte Mondhörner. Archäolog*innen rätseln seit Generationen über ihre Funktion und Bedeutung. Mondhörner sind in verschiedenen Grössen und Formen bekannt: Einige sind nur flüchtig geformt, andere sorgfältig ausgearbeitet und mit aufgesetzten Leisten, Rillen und Fingereindrücken reich verziert. Viele der Funde müssen aufgrund von Brandspuren mit Feuer in Kontakt gewesen sein. Sie wurden daher als Feuerböcke, also als Gestelle zum Auflegen von Holzscheiten gedeutet. Andere Forscher*innen gehen davon aus, dass es sich um Feueraltäre handelt. Dem widersprechen aber auffällig kleine Funde, die nicht funktional sein können und auf eine symbolische Bedeutung hinweisen. Wie die moderne Bezeichnung für Tongegenstände sagt, erinnern Mondhörner an einen sichelförmigen Halbmond oder aber an Rinderhörner.

Kleines und grosses Mondhorn mit reicher Verzierung. © AATG, bearbeitet

Pfahlbauorchester

In der spätbronzezeitlichen Pfahlbausiedlung am Bodensee bei Hagnau-Burg hat man Fragmente eines ausgehölten und verzierten Holunderholzes entdeckt. Ein seitliches Loch gibt den Fund als Flöte zu erkennen. Mit einem Alter von über 3000 Jahren ist es die älteste Holzflöte Mitteleuropas. Aus anderen Fundstellen der Spätbronzezeit sind hohle Tonkugeln bekannt, die mit Kieseln gefüllt sind. Einige haben die Form von Vögeln. Babyspielzeug oder Rhythmusinstrument, fragen wir uns?

Replik derHolzflöte aus der Pfahlbaufundstelle Hagnau-Burg (D). © K. Schäppi

Die wenigen bekannten Musikinstrumente reichen nicht, um sich ein genaueres Bild der Musik in einem Pfahlbaudorf zu machen. Aber bereits damals gehörte wohl zu jeder Feier eine musikalische Untermalung und ein festliches Essen. Wir glauben, dass solche gesellschaftlichen Anlässe tief in uns Menschen verwurzelt sind. In diesem Sinne wünschen wir: Frohe Weihnachten!

Ein Festmahl, wie es die Pfahlbauer*innen gegessen haben könnten.
Portrait Simone Benguerel
Portrait Katharina Schäppi
Archäofacts

Hauser, Miriam (2019) Der Rest vom Fest. Eine spätbronzezeitliche Grube voller Scherben vom Seckeberg in Frick. Archäologie im Aargau. Brugg.
DOI: 10.19218/3906897356

Marti-Grädel, Elisabeth/Deschler-Erb, Sabine/Gerber, Yvonne et al. (2002) Schamanismus am Bodensee? Ungewöhnliche Verkohlungsspuren an Tierschulterblättern in der neolithischen Siedlung Arbon-Bleiche 3 am Bodensee und ihre möglichen Ursachen, Archäologisches Korrespondenzblatt 32, 2002, 31–49.

Plattform 15/07. Das SWR-Projekt: Leben wie vor 5000 Jahren. Kelten am südlichen Bodensee Eine 3000 Jahre alte Flöte vom Bodensee
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Mondhörner – Rätselhafte Kultobjekte der Bronzezeit. Wanderausstellung

Jo-Jo-Effekt bei den Pfahlbauer*innen

Weihnachten steht vor der Tür und damit eine Zeit des zelebrierten Überflusses: Viel Essen, ein Haufen Geschenke, die ganze Verwandtschaft, Dekoration, wohin das Auge blickt … Und zu Neujahr der Vorsatz, die angegessenen Kilos mit viel Sport wieder loszuwerden.

Weihnachten kannten die Pfahlbauer*innen noch nicht – Feste, bei denen man sich die Bäuche vollschlug, aber ziemlich sicher schon. Auf die Idee, danach im Wald herumzurennen, Baumstämme zu stemmen oder planlos auf dem See hin- und herzurudern, kamen sie bestimmt nicht. Denn in der Jungsteinzeit und Bronzezeit gab es auch das Gegenteil von Überfluss: den Mangel, die Entbehrung, den Hunger. Interessanterweise ist der Überfluss archäologisch sehr viel schlechter nachzuweisen als der Mangel.

Wachstumsstockungen zeichnen sich im Röntgenbild als sogenannte Harris-Linien ab. CC BY 3.0

Linien im Knochen verraten Wachstum

Mangelernährung schlägt sich in den Knochen nieder. Nur im Röntgenbild sind die sogenannten Harris-Linien in der Wachstumszone der Arm- und Beinknochen sichtbar. Sie sind ein deutliches Zeichen von Phasen mit zu wenig oder einseitiger Ernährung oder einem Wachstumsstillstand durch eine Krankheit. Je mehr von diesen Linien in einem Knochen vorliegen, desto häufiger geriet das Wachstum des betreffenden Individuums ins Stocken. Von blossem Auge zu erkennen ist eine Knochenveränderung im Bereich der Augenhöhlen, die Cribra orbitalia. Bei starker Blutarmut, die anhaltenden Durchfall oder Mangelernährung als Ursache haben kann, wird der Knochen porös. Untersuchungen an Skeletten aus der Westschweiz zeigten bei sage und schreibe 87.5 % der Kinder diese krankhafte Veränderung. Wer eine solch entbehrungsreiche Kindheit überlebte, war als Erwachsene*r deutlich kleiner als die Zeitgenoss*innen – auch das eine Folge von schlechter Ernährung.

Cribra orbitalia am mittelalterlichen Skelett eines 15-Jährigen aus Polen. CC BY 4.0, Krenz-Niedbala, M. (2017) Fig. 2, bearbeitet

Rund ist schön

Ein zu niedriger BMI dürfte bei den Pfahlbauer*innen deshalb eher die Regel als die Ausnahme gewesen sein. Aber gab es auch übergewichtige Menschen? Fettpolster hinterlassen keine bleibenden Spuren am Skelett, also müssen wir nach anderen Hinweisen suchen. Bei den Menschen der Altsteinzeit finden wir sie: Die berühmten Venusfiguren. Geschnitzte Frauenstatuetten aus Stein, Knochen, Elfenbein oder Ton. Sie haben ausladende Hintern, Speckröllchen um die Hüften, grosse Brüste und keinen oder nur einen kleinen Kopf. Auch über letzteres Merkmal kann man sich den Kopf zerbrechen, Forscher*innen diskutieren aber vor allem die betont üppigen, weiblichen Formen. Einige sehen darin Fruchtbarkeitssymbole, andere eher Idealbilder gut genährter Frauen. So oder so weisen sie auf einen realen oder fiktiven Überfluss hin. Das nomadische Leben in der Altsteinzeit, am Ende der Eiszeit, erscheint uns heute entbehrungsreich. Dennoch muss es offenbar auch sehr gut genährte Frauen gegeben haben. Die Sesshaftigkeit, die mit der Jungsteinzeit ab 5500 v. Chr. kam, erscheint uns dahingegen viel bequemer. Tatsächlich mussten mussten die Menschen ab dann aber sehr viel mehr Zeit für die Nahrungsgewinnung aufwenden und härter dafür arbeiten. Sie ernährten sich zudem einseitiger und waren im Schnitt kleiner als die Jäger*innen und Sammler*innen.

Venusstatuette vom Hohlefels (D). CC BY-SA 3.0, bearbeitet

(Un)vorteilhafte Wollröcke

Aus der Zeit der Pfahlbauer*innen gibt es nur ganz wenige Menschendarstellungen. Stelen, grosse Steinskulpturen, die vor 6’000 Jahren bei Gräbern aufgestellt wurden, lassen kaum Rückschlüsse auf Körperformen zu. Oben schmal, unten immer breiter werdend, bei Männer- wie Frauenskulpturen: Die Figur war scheinbar unwichtig. Grösseres Augenmerk lag auf Accessoires wie gemusterten Kleidern, Gürteln und prunkvollen Kupferdolchen und -äxten. Aber auch Kleider können Hinweise auf die Körperform, oder zumindest dessen Ideal geben. In der nordischen Bronzezeit gibt es z. B. in Dänemark Funde von Kleidern, die aus heutiger Sicht eher unvorteilhaft geschnitten sind: In den Gräbern von Frauen fand man Röcke aus Wollstoff mit einem Umfang von bis zu vier Metern. In zahlreiche Falten gelegt und von einem Gürtel zusammengehalten, betonen sie selbst die Hüften graziler Personen. Ob tatsächlich diese Absicht dahinterstand, der Stoff einfach nur eine wärmende Funktion hatte oder wir völlig im Dunkeln tappen mit unseren Deutungen, bleibt ungewiss. Ebenfalls unbekannt ist, wie die Kleidung in unseren Breitengraden aussah, denn in unseren Böden erhalten sich nur kleine Stofffetzen aus Leinen und keine Wolle. Erst nach der Zeit der Pfahlbauer*innen kam in unseren Breitengraden die Mode auf, reich verzierte Gürtel aus Bronzeblech zu tragen. Sie betonten die Taille und die war zumindest im Fall einer Frau von Eggersberg (D) stattlich: Der Metallgürtel mass 1.31 cm.

Wollkleidung aus einem bronzezeitlichen Grab von Borum Eshøj (DK). CC BY 2.5, bearbeitet

Hirschfilet wurde immer kleiner

Nicht nur die Knochen von Menschen geben uns Hinweise auf magere Zeiten, indirekte Anzeiger sind auch Tierknochen. In der Jungsteinzeit erstreckten sich in unserer Gegend noch unendliche Wälder. Ein Paradies für Wildtiere, und für Jäger*innen ein scheinbar unerschöpflicher Vorrat an Frischfleisch – könnte man denken. Und trotzdem haben es die Pfahlbauer*innen geschafft, die Wildtierpopulation merklich zu dezimieren. Der Rothirsch war die wichtigste Jagdbeute. Neben Fleisch lieferte er das begehrte Geweih als Rohmaterial für Werkzeuge und Alltagsgegenstände. Die Jäger*innen hatten es deshalb vor allem auf kräftige, ausgewachsene, männliche Hirsche abgesehen. Um die Mitte des 4. Jahrtausends jagte man in der Gegend der heutigen Stadt Zürich plötzlich mehr Hirsche, wie ein Anstieg von Hirschknochen aus den Pfahlbausiedlungen zeigt. Gleichzeitig findet man aus diesem Zeitabschnitt weniger Getreidereste und der Anteil an Wildpflanzen unter den Funden nimmt zu. Offensichtlich mussten die Pfahlbauer*innen zu dieser Zeit wegen Missernten auf Wildpflanzen und Wildfleisch ausweichen. Die vermehrte Jagd wiederum hatte zur Folge, dass der Hirschbestand sank und man zunehmend auch junge, schmächtigere Tiere erlegte. Diese lieferten nicht nur weniger Fleisch, auch das kleinere Geweih war nicht brauchbar als „Puffer“ für die Steinbeile. Um den Schlag beim Holzhacken abzufedern, setzte man nämlich die Steinbeile in ein sogenanntes „Zwischenfutter“ aus Hirschgeweih ein, welches in den Holzgriff eingelassen war. Aus Rohstoffmangel hat man in der Folge die Steinbeile ohne Zwischenfutter geschäftet, wodurch sie häufiger zu Bruch gingen.

Zwischenfutter aus Hirschgeweih von Hüttwilen (CH). © AATG, Julian Rüthi, bearbeitet

Diesen Dominoeffekt konnten Archäolog*innen aus den Funden der Pfahlbauten um den unteren Zürichsee herauslesen. Doch nicht nur hier, auch am Bodensee, Bielersee und Zugersee nimmt zur gleichen Zeit die Hirschjagd zu. Auslöser dafür war eine Klimaschwankung mit mehr Niederschlägen und kälteren Temperaturen im Sommer, wodurch das fragile System der Nahrungsversorgung ins Schwanken geriet und wohl so mancher Magen leer blieb.

Ein Urwald im Schweizer Mittelland

Es braucht schon sehr viel Vorstellungskraft, um sich das heute dicht besiedelte Schweizer Mittelland als Urwald vorzustellen. Genau dieses Bild bot sich den Pfahlbauern vor 6000 Jahren: Dichte und dunkle Buchen-Tannenwälder prägten die Landschaft. Doch je länger je mehr griffen die Menschen in dieses System ein. Sie schlugen Holz – bevorzugt Eichen – für ihre Häuser. Durch Brandrodung öffneten sie den Wald und gewannen dadurch mit Holzkohle und Asche gedüngte Ackerflächen. Selbst auf mageren Böden konnten sie auf diese Weise während ein bis drei Jahren eine reiche Ernte einfahren. Dann war der Boden ausgelaugt. Der Wald regenerierte sich, es wuchsen zunächst Erdbeeren, Brombeeren, Haselsträucher und Wildäpfel, die eine üppige Beeren- Nuss- und Fruchternte garantierten.

Brandrodung in Finnland 1914. CC BY 4.0, bearbeitet

Unzählige Schalen von geknackten Haselnüssen in Siedlungsschichten zeigen, dass Haselnüsse ein wichtiger Bestandteil der Ernährung waren. Schätzungen zufolge sammelten die Menschen 50 Kilogramm Haselnüsse pro Haus und Jahr. Zum Vergleich: Normale Packungen im Supermarkt enthalten meist 100 bis 200 Gramm. Auf einer Ausgrabung in Süddeutschland bei Hornstaad am Bodensee lag über einer Brandschicht gar eine dicke Schicht unverkohlter, geknackter Haselnüsse. Was war geschehen? Im Jahr 3910 v. Chr. brannten einige Häuser mitsamt Wintervorrat ab. Das Ende? Nein, das Dorf wurde wieder aufgebaut. Offenbar überlebten die Bewohner und ernährten sich in Ermangelung von Getreidevorräten hauptsächlich von Haselnüssen. Überfluss und Mangel können somit auch relativ sein.

Verbrannte Haselnüsse und -schalen. © LAD, M. Erne, bearbeitet

Katastrophen wie diese, gab es immer wieder. Dorfbrände, Überschwemmungen, Unwetter, Klimaschwankungen, Missernten, Schädlinge oder Schäden durch Wild gehörten zum Alltag. Doch die Pfahlbauer*innen wussten sich zu helfen. Neben grossen Mengen Haselnüssen finden Archäolog*innen immer wieder Anhäufungen von Gänsefusssamen (Chenopodium album). In historischer Zeit gab man gemahlene Samen dieses «Unkrauts» in Notzeiten dem Brotteig zu. Not macht bekanntlich erfinderisch, und so wurde Mehl auch mit Moos, Stroh, Heu, Sauerampfersamen, Rinde oder Eicheln gestreckt. Eicheln assen die Pfahlbauer*innen ebenfalls. Ob sie dies aber nur in Notzeiten taten oder Gänsefuss und Eicheln zum normalen Menüplan gehörten, wissen wir nicht. Rindenbrote jedenfalls isst man noch heute in Skandinavien freiwillig und ohne Not, denn es schmeckt lecker und enthält viele Vitamine.

Nadelholzrinde mit essbarer Bastschicht.

Holz weg, Pfahlbauer*innen weg

Das Landwirtschaftsmodell der Pfahlbauer*innen hatte auch seine Schattenseiten. Zwar gab es mehr lichte Flächen mit Sträuchern, doch gutes Bauholz wurde nach einigen Jahrzehnten im Umfeld einer Siedlung Mangelware. Aus immer weiterer Entfernung musste man das Baumaterial, d. h. Eichenstämme, herholen und irgendwann auf weniger geeignete Holzarten ausweichen. Die Sipplinger Bucht am Bodensee ist ein anschauliches Beispiel dafür: Die Zeit, während der die Ackerflächen regenerieren konnten, verkürzte sich, der Bedarf nach Holz stieg jedoch. Gründe dafür waren Bevölkerungswachstum und eine stärker auf Transport und Verteidigung ausgelegte Infrastruktur. In der letzten Besiedlungsphase um 2400 v.Chr. gab es nicht mehr ausreichend Holz in Siedlungsnähe und die Menschen verliessen die Bucht.

Die Waldnutzung ist so alt wie die Sesshaftigkeit.

Ein weiterer Grund, ein Dorf zu verlassen, war verschmutztes Wasser. Abwasserleitungen und Kläranlagen gab es noch keine. Haushaltabfälle und Kot landeten in unmittelbarer Nähe der Häuser auf dem Boden oder im Wasser: ein Paradies für Keime und Parasiten. Zumindest diese gab es im Überfluss. Parasitenbefall hingegen führte bei den Menschen zu Mangelernährung. So war das Leben.

Vor diesem Hintergrund bekommt ein Festessen wie wir es bald zu Weihnachten servieren, eine ungleich viel höhere Bedeutung. Was für eine Freude muss es gewesen sein, essen zu können, bis man satt ist, einen vollen Magen zu haben und den Moment des Überflusses zu geniessen, bevor unabwendbar wieder Zeiten des Mangels folgten. Geniesst deshalb den Moment, feiert das Fest und nehmt euch für Neujahr vor, mehr Haselnüsse zu essen und frisches Leitungswasser zu trinken.

Portrait Katharina Schäppi
Portrait Franziska Pfenninger
Archäofacts

Abegg, C., Desideri, J., Dutour, O. et al. (2021) More than the sum of their parts : reconstituting the paleopathological profile of the individual and commingled Neolithic populations of Western Switzerland. Archaeol Anthropol Sci 13, 59.
DOI: doi.org/10.1007/s12520-021-01278-4

Schibler, J., Jacomet, S., Hüster-Plogmann et al. (1997) Economic crash in the 37th and 36th centuries cal. BC in neolithic lake shore sites in Switzerland. Anthropozoologica 1997, 25, 26, 553-570.

Experimente zum jungsteinzeitlichen Feldbau: Forchtenbergprojekt

Stoned age

Das Jahr neigt sich dem Ende zu, die Sonnenstunden sind rar geworden. Mal schneit es, mal regnet es und meist ist es kalt und unwirtlich. Manch einer mag sich fragen, wie so ein Winter im Pfahlbaudorf wohl gewesen sein kann: Rückte man zusammen und erzählte sich Geschichten im fahlen Licht des Feuers? Oder konsumierte man vielleicht Rauschmittel gegen den Winterblues?

Wir werden es nie erfahren. Jedenfalls nicht mit Sicherheit. Wahrscheinlich ist die Verwendung von Rauschmitteln aber so alt wie die Menschheit selbst.

Sesshaft wegen Bierkonsum?

Einige Forscher glauben gar, dass die Menschen nur sesshaft wurden, um Rauschmittel –genauer Bier – herzustellen. Sie berufen sich dabei auf Funde aus Göbekli Tepe, einem Kultplatz aus dem 10. und 9. Jahrtausend v. Chr. im Südosten der heutigen Türkei. Just zur selben Zeit fingen die Menschen an, Getreide zu domestizieren. Göbekli Tepe steht also am Anfang eines der bedeutendsten Ereignisse in der Geschichte der Menschheit: Der Neolithisierung. Und der Erfindung des Biers.

Der Kultplatz Göbekli Tepe in der Türkei. © R. Ebersbach

In der Anlage selbst wurde kein Getreide angebaut. Sie diente vielmehr als Versammlungsort verschiedener Gruppen, die sich dort trafen und Rituale durchführten – oder in anderen Worten Gelage feierten mit 500 bis 1000 Personen. Neben den berühmten kreisförmig angeordneten, gravierten Stelen entdeckten Archäolog*innen mehrere grosse Steingefässe, die Reste von Bierstein (kalkhaltige Ablagerungen) enthielten. Ob tatsächlich Bier gebraut wurde, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, denn die Reste deuten lediglich auf einen Fermentierungsprozess hin. Allerdings befindet sich die Anlage genau in der Region, wo auch die Wildformen der Getreide, d. h. Wildgräser wachsen, die als erstes domestiziert wurden (z. B. Weizen und Gerste). Womöglich ist also etwas dran an der Geschichte, dass die Menschen nur wegen dem Bier sesshaft wurden.

Die Menge macht das Gift

Egal ob Bier, Schoggi oder Gemüse: in der falschen Menge konsumiert, schadet alles – sogar Wasser. Die geläufige Redewendung stammt ursprünglich von Paracelsus. Sie wurde jedoch vereinfacht und dem heutigen Sprachgebrauch angepasst. Das Originalzitat lautet «Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift. Allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.» Paracelsus war Arzt und beschäftigte sich intensiv mit den Wirkstoffen von Heilpflanzen. Die beiden Bezeichnungen Rauschmittel und Rauschgift zeigen, dass Paracelsus’ Zitat auch bei Drogen Gültigkeit hat und die Grenze nicht immer scharf zu ziehen ist. Was berauscht, kann in der falschen Menge konsumiert schaden oder gar töten.

Der Konsum von getrocknetem Fliegenpilz führt zu Halluzinationen.

Doch was heisst eigentlich „berauscht“? Drogen, Rauschmittel oder Rauschgifte wirken ganz unterschiedlich. Sie können körperliche Zustände verändern oder eine bewusstseins- und wahrnehmungsverändernde Wirkung erzeugen. Natürliche Rauschmittel bestehen aus Teilen von Pflanzen, Pilzen, Tieren oder Mikroorganismen; alles verfügbar in der Pfahlbauerapotheke. Ebenso unterschiedlich wie die Stoffe und deren Wirkung sind die Beweggründe sie zu konsumieren. Denkbar ist, dass die Pfahlbauer*innen im Rahmen von Ritualen auch Rauschmittel konsumiert haben.

Schlafes Blume

Die Pfahlbauer*innen kannten also berauschende Stoffe. Ob sie diese nutzten, bleibt aber offen. Analysen von Bodenproben aus Pfahlbausiedlungen zeigen jedenfalls auffallend hohe Konzentrationen von Schlafmohnsamen. Der botanische Name Papaver somniferum leitet sich aus dem Lateinischen ab und bedeutet Schlaf bringend. Ob Schlaf oder Rausch ist wiederum eine Frage der Menge.

Mohnsame. © LAD

Die Pflanze mit den zarten, weissen bis violetten, selten roten Blütenkronblättern stammt ursprünglich aus dem westlichen Mittelmeergebiet. Dort hat man sie in der frühen Jungsteinzeit kultiviert. Interessanterweise ist es die einzige domestizierte Pflanze auf den Feldern der ersten Bauern und Bäuerinnen in unserer Region, die nicht aus dem Vorderen Orient zu uns kam, sondern aus dem Mittelmeerraum. Damit kultivieren die im Alpenraum ansässigen Bewohner*innen Mohn seit mehr als 7’000 Jahren . Ebenso lang könnten sie daraus berauschende Substanzen gewonnen haben. Alle Teile der Pflanzen enthalten nämlich verschiedene Alkaloide, zu denen auch das Morphium gehört. Die Konzentration ist im Saft der Mohnkapsel mit Abstand am höchsten. Als Schmerzmittel hat Morphium bis heute eine wichtige Bedeutung in der Medizin. Da es bei regelmässiger Einnahme jedoch zu starker Abhängigkeit führt, ist Morphium rezeptpflichtig. Auch Roh-Opium gewinnt man aus den unreifen Kapseln des Schlafmohns. Durch Anritzen tritt Saft aus, welchen man anschliessend trocknet und abkratzt. Roh-Opium bildet die Grundlage für die Herstellung von Rauschmitteln wie Rauch-Opium oder Heroin.

Blühender Schlafmohn.

Waren die Pfahlbauer*innen also alle Junkies und dauernd high? Wohl kaum. Erst der Fund einer angeritzten Samenkapsel würde eindeutig belegen, dass sie den Saft tatsächlich nutzten. Doch auch der Genuss von Mohnsamen ist nicht ohne. Je nach konsumierter Menge schafft man es nicht mehr durch den Drogentest. Im Rauschzustand ist man deswegen aber noch lange nicht. Nur selbst ans Steuer setzen sollte man sich vielleicht lieber nicht mehr. Glücklicherweise waren die Ochsenkarren der Pfahlbauer*innen nur sehr langsam unterwegs und Drogentests gab es auch noch keine.

Rauschmittel als modisches Accessoire?

Ob man Schlafmohn hauptsächlich als Nahrungspflanze oder zur Rauschmittelgewinnung angebaut hat, bleibt also offen. Die grossen Mengen an Mohnsamen in den Siedlungsschichten zeigen jedoch, dass die Pflanze von grosser Bedeutung war für die Menschen. Einen weiteren Hinweis darauf geben Gewandnadeln aus der späten Bronzezeit. In Zeiten ohne Reiss – und Klettverschluss oder gar Druckknöpfen hielten Nadeln Stoffe und Kleider zusammen. Die Form der Nadelköpfe unterlag Modeerscheinungen und veränderte sich im Laufe der Zeit. In der späten Bronzezeit (1350-800 v. Chr.) gibt es zwei Nadeln, deren Köpfe einer Mohnkapsel gleichen: die sogenannten Vasenkopfnadeln erinnern an junge Kapseln; die Mohnkopfnadeln sind eher stilisierte, pralle Kapseln. Die Bezeichnung ist natürlich modern und wird von Archäolog*innen als Typenbezeichnung verwendet. Aber wer weiss, was die Pfahlbauer*innen hinter diesen Nadeln gesehen haben, v. a. im Rauschzustand.

Replik einer Vasenkopfnadel.
Angeschmolzene Mohnkopfnadel aus Bronze. © KASH, bearbeitet

Was die Pilze betrifft, so haben wir im Blog vom 12. September 2021 bereits einige berauschende Kandidaten vorgestellt. Mit Pilzen wie dem Fliegenpilz (Amanita muscaria) oder dem Spitzkegeligen Kahlkopf (Psilocybe semilanceata) wuchsen vor den Haustüren der Pfahlbauer*innen verschiedene einheimische Sorten, die unter die Kategorie „magic mushrooms“ fallen.

Die Mutter der psychoaktiven Substanzen

An Getreideähren oder Gräsern kann ein bis 6 cm langer dunkler Schlauchpilz wachsen (Claviceps purpurea), besser bekannt als Mutterkorn. Die darin enthaltenen Alkaloide weisen eine hohe Giftigkeit auf. Die Einnahme schon von geringen Mengen kann zu massiven Verengungen der Blutgefässe, in der Folge zu Durchblutungsstörungen bis hin zu Lähmungserscheinungen, Nekrosen oder Atem- und Herzstillstand führen. Andere Symptome sind Verwirrtheit und Halluzinationen – also eine Veränderung der Wahrnehmung. Aus dem Mittelalter sind Epidemien mit tausenden von Toten bekannt, die man auf Vergiftungen durch Mutterkorn zurückzuführen kann. Die Menschen hatten es ahnungslos mit Roggenbrot gegessen.

Die Erkrankung erhielt sogar einen eigenen Namen: St. Antoniusfeuer oder Ignis sacer und sie galt als Strafe Gottes. Die im Mutterkorn enthaltenen wasserlöslichen Lysergsäurealkaloide spielten in berauschenden Getränken eine Rolle bei Riten im alten Griechenland – und bei der Entwicklung von LSD. Roggen wurde nun in der Pfahlbauzeit noch nicht angebaut. Mutterkorn kann seltener auch auf anderen Getreidearten auftreten. Pfahlbauer*innen konnten daher bewusst oder zufällig auf einen (Horror-)Trip gegangen sein.

Mutterkornpilz an Gerste.

Zum Rauchen vors Dorf

Heute würde im Pfahlbaudorf ein striktes Rauchverbot herrschen. Die Dörfer brannten oft genug ab. Ob unvorsichtige Raucher*innen schuld daran waren, wissen wir jedoch nicht. Tabak gab es mit Sicherheit noch keinen. Aber wie wäre es z. B. mit Waldrebe (im Schweizerdeutschen auch bekannt als Niele)? Oder ein paar getrockneten Blättern der Brombeere? Geschmacklich überzeugt beides nicht und auch der Rauschzustand ist vermutlich eher eine Einbildung. Zumindest erging es manch einem als halbstarke Jugendliche wohl so beim Paffen im Wald.

Waldrebe (Niele) kann man rauchen, muss aber nicht.
Portrait Franziska Pfenninger
Archäofacts

Informationen des Deutschen Archäologischen Institutes zu Göbekli Tepe.

Interview mit dem Archäologen Jens Notroff zu den Gelagen in Göbekli Tepe.

Da braut sich was zusammen: Bier

Rund um die Alpen haben Archäolog*innen in den Pfahlbauten nicht nur Grundnahrungsmittel gefunden, sondern auch Pflanzenarten, die als Rausch- und Genussmittel genutzt werden konnten wie z. B. Mohn. Ob man in der Jungsteinzeit und Bronzezeit bewusst bewusstseinsverändernde Stoffe konsumiert hat, ist kaum nachweisbar. Ein Getränk, das aus unserem heutigen Alltag gar nicht mehr wegzudenken ist, gab es aber ziemlich sicher schon: Bier.

Bier ist nahrhaft, man kann es einfach herstellen und es erheitert die Gemüter. Die allgemein gehaltene Definition für Bier lautet: Es ist eine alkoholhaltige Flüssigkeit aus gekeimten, zerkleinerten und fermentierten stärkehaltigen Pflanzenbestandteilen. Das können Getreide sein, aber auch Mais, Bananen oder Kartoffeln. Da man für die Bierherstellung lediglich Getreide, Wasser und einen Topf braucht, war es den Pfahlbauer*innen eigentlich problemlos möglich, selber Bier herzustellen.

Reifende Gerste; die Grundlage für Bier, war den Pfahlbauer*innen bekannt.

Gerste, Wasser, Topf – fertig ist das Brau-Set

Gerste war eine der wichtigsten Kulturpflanzen bei den Pfahlbauer*innen. Das Getreide verarbeitete man zu allen möglichen Endprodukten. Wenn die Lagerung mal nicht sachgerecht war und das Getreide zu keimen anfing, war das noch kein Unglück. Im Gegenteil: Durch die Keimung wird die Stärke im Getreide in kleinere Moleküle umgewandelt, sogenannte „Mehrfachzucker“ wie z. B. Maltose. Wie der Name schon sagt, schmeckt das Ergebnis süsslicher als ungekeimtes Getreide. Gekeimtes und wieder getrocknetes Getreide bildet heute noch die Grundlage für Getränke (Malzbier, Malzkaffee) oder Süssigkeiten (Ovomaltine, Bayerisch Blockmalz). Es kann wie ungekeimtes Getreide gekocht, getrocknet, gemahlen oder zu Flocken verarbeitet werden.

Oben: Gerstenmalz in unterschiedlichen Stadien. Unten: Schema der Abläufe in einem Gerstenkorn bei der Keimung. © A. G. Heiss, bearbeitet

Giesst man das Malz mit Wasser auf und lässt es eine Weile stehen, kommt es zur Gärung oder Fermentation. Diese erfolgt durch natürlich vorkommende Bierhefen oder Milchsäurebakterien, die bei unterschiedlichen Temperaturen aktiv sind. Wie die „Zimmertemperatur“ in einem Pfahlbauhaus so war, wissen wir zwar nicht – vermutlich keine 22 Grad wie heute – aber um eine Gärung von zerkleinertem Getreide in Gang zu setzen, hat sie sicher ausgereicht. Der gleiche Prozess macht aus Mehl Sauerteig und aus Rohmilch Käse.

Craft Beer nach Pfahlbauer*innen-Art

Obwohl Bier nach dem Genuss rückstandsfrei verdaut wird, bestehen Chancen, die Bierherstellung in prähistorischen Zeiten zu belegen: Dann nämlich, wenn das Bier ungefiltert war und beim Dorfbrand im Topf verkohlte. Zugegeben, diese Kombination von Umständen ist ein seltener (Un-)Glücksfall, aber genau das ist beim Nachweis des vermutlich ältesten Bieres in Mitteleuropa passiert. Den unförmigen, schwarzen Klumpen aus der Pfahlbausiedlung Hornstaad-Hörnle (D) am Bodensee hielten die Finder*innen zuerst für einen verkohlten Rest von Getreidebrei.

Rekonstruktion der Siedlung Hornstaadt-Hörnle (D). Der potentielle Bierrest kommt aus dem markierten Haus. © LAD, A. Kalkowski, bearbeitet

Rasch war klar, dass es sich um zerkleinerte Gerste handelte. Mit Hilfe von neu entwickelten Methoden und einem Laser-Scan-Mikroskop gelang es den Forscher*innen sogar zu beweisen, dass die Körner zuerst gekeimt waren, danach zerkleinert wurden und schliesslich mit Flüssigkeit aufgegossen in einem Kochtopf schwammen; just zu dem Zeitpunkt als 3910 v. Chr. die Siedlung abbrannte.

Verkohlter Topfinhalt aus der Pfahlbaufundstelle Hornstaad-Hörnle (D). CC BY 4.0 A. G. Heiss et al.

Die alles entscheidende Frage aber bleibt offen: Hat die Flüssigkeit bereit Alkohol enthalten oder nicht? Darf man nun von Bier sprechen oder war dies nur ein Malheur bei der Zubereitung von Gerstenbrei? Unserer Meinung nach sprechen genügend Indizien dafür, dass die Pfahlbauer*innen von Hornstaad in besagtem Topf gezielt ein leicht berauschendes Getränk zubereitet haben und damit das produzierten, was wir heute als Bier in allen seinen Geschmacksrichtungen konsumieren. Dafür sprechen auch Reste von gekeimter und anschliessend zerkleinerter Gerste in Gefässen aus den Pfahlbaustationen Sipplingen-Osthafen (D) und Zürich-Parkhaus Opéra (CH). Die Forschung ist hier erst ganz am Anfang und wir erwarten in Zukunft viele weitere Bier-Nachweise. Vielleicht gab es nicht nur Gerstengetränke, sondern auch Bier aus anderen Getreidearten. In der Bronzezeit käme zum Beispiel Hirsebier in Frage.

Querschnitt durch den Topfinhalt mit Bierrest. Die Gerstenreste sind nach Gewicht und Grösse sortiert, was auf eine Flüssigkeit hinweist. CC BY 4.0 A. G. Heiss et al.

Hopfen und Malz, Gott erhalt’s

Interessanterweise kennen wir aus der Jungsteinzeit nicht nur den Biertopf im Pfahlbauhaus, sondern auch Nachweise von Hopfen (Humulus lupulus) aus Pollenprofilen. Der Echte Hopfen ist besonders häufig in feuchten Auenwäldern anzutreffen – sozusagen vor der Haustüre der Pfahlbauer*innen. Ob diese einheimische Pflanze im Bier landete, wissen wir nicht, denn Hopfen-Sprossen kann man auch als Gemüse essen. Historisch überliefert sind allerlei andere Pflanzen, die als Gewürz ins Bier kamen, etwa Fichtensprossen, Beifuss, Minze, Wacholder oder Schafgarbe.

Echter Hopfen in einem Auenwald.

Vielleicht haben sich die Pfahlbauer*innen abends am Feuer tatsächlich auf ein Bier getroffen, um nach getaner Arbeit auf den Feierabend anzustossen. Vielleicht wurde es auch bei Ritualen eingesetzt. Vielleicht gönnen wir uns heute Abend einfach selber ein Bier und stellen uns vor, was die Pfahlbauer*innen dazu gegessen hätten. Anregungen findest du bei unseren Rezepten genug. Und für ganz Wagemutige gibt es im Internet jede Menge Anleitungen, um Bier zuhause selbst herzustellen.

Portrait Renate Ebersbach
Archaeofacts

Bier – Die Anfänge. Archäologie in Deutschland, 2021, 1.

Heiss, A. G./Berlhuete Azorín, M./Antolín, F. et al. (2000) Mashes to Mashes, Crust to Crust. Presenting a novel microstrucutral marker for malting in the archaeological record. PLOS ONE 15, 5. DOI: doi.org/10.1371/journal.pone.0231696

Ebersbach, R./Marinova-Wolff, E./Heiss, A. G. (2001) 6000 Jahre altes Gerstenmalz aus Hornstaad – Bioarchäologischer Nachweis für das älteste Bier in Europa? Plattform 28/29, 2019/20, 127-132.

Beitrag zu den verschiedenen Hefen, die zu Alt- oder Lagerbieren führen.

3D-Scan des verkohlten Bierrests aus Hornstaadt-Hörnle.

Blut tut gut: Assen die Pfahlbauer*innen Blutwürste?

Für einmal müssen wir ohne Archäofacts auskommen und einen rein spekulativen Blogbeitrag verfassen. Er behandelt ein Thema, das wir im Zusammenhang mit der Ernährung der Pfahlbauer*innen jedoch nicht ausser Acht lassen können: Blut. Es fällt beim Schlachten und bei der Jagd automatisch an. Wie in früheren Beiträgen berichtet, wissen wir, dass man in der Jungsteinzeit und Bronzezeit, ja bis in die jüngere Geschichte hinein, von Tieren selbstverständlich so viel als möglich verwertet hat. Da ist es naheliegend, dass man Blut in der Urgeschichte ebenfalls gegessen hat. Der Nachweis ist jedoch äussert schwierig, und es gibt einige historische Facts, die darauf hinweisen, dass dies nicht überall und nicht zu allen Zeiten der Fall war.

Heute kennen wir in unseren Breitengraden am ehesten die Blutwurst, an der sich die Geister scheiden. In Norddeutschland gibt es aber auch Schwarzsauer, ein Gericht aus mit Essig eingedicktem Blut, das Fleischstücke enthält. Noch weiter im Norden ist die Vielfalt an Blutgerichten viel grösser und sie kommen nicht nur zur klassischen Schlachtzeit im Herbst auf den Tisch. Doch dazu später mehr.

Blut: Lebenssaft und nach alter Vorstellung Sitz der Seele.

Die Seele sitzt im roten Saft

Blut ist weit mehr als ein proteinreiches, eisen- und zinkhaltiges Lebensmittel. Es ist der Lebenssaft, wie wir gerne sagen. Im Judentum und dem Islam gilt das Blut sogar als Sitz der Seele, was zum Verbot führte, Blut zu essen. Daher trennt man den Tieren beim Schächten, bzw. der Halal-Schlachtung, die Halsschlagader auf und lässt sie durch den eigenen Herzschlag ausbluten. Auch im frühen Christentum war der Verzehr von Blut aufgrund derselben Vorstellung verboten. In Nordeuropa hingegen fing man das Blut auf, ass oder trank es, um die Kraft des Tieres in sich aufzunehmen. Diese Tradition, von der wir nicht wissen, wie weit sie zurückreicht, führte dazu, dass es in Nordeuropa noch heute viel mehr Rezepte mit Blut gibt als weiter südlich.

Damit Blut nicht gerinnt, schlägt man es auf.

Blut ist sehr energiereich und eisenhaltig. Es kann daher Eisenmangel vorbeugen, einem in der Urgeschichte verbreiteten Problem. Zahlreiche menschliche Schädel weisen im Dach der Augenhöhle poröse Stellen auf; ein Anzeiger für länger andauernde und massive Anämie, d. h. Blutarmut. Den Bedarf an Eisen konnte Blut also offensichtlich nicht komplett oder nicht für alle decken. Vielleicht gilt, wie beim Fleisch, dass Kinder und Frauen weniger davon erhielten als Männer und ältere Personen. Immerhin ergibt ein (heutiges) Schwein 2.5 bis 4.5 kg Blut. Daraus lässt sich einiges machen. Die Möglichkeiten sind vielfältig und historische oder traditionelle Rezepte könnten – leicht abgewandelt – bereits in der Jungsteinzeit und Bronzezeit so zubereitet worden sein. Einzig Gewürze wie Zwiebeln, Knoblauch oder Pfeffer müssen wir uns wegdenken. Ansonsten bieten sich kräftige Würzkräuter wie Thymian und Majoran an, um den metallischen Eisengeschmack des Blutes zu überdecken.

Blutwurst würzt man mit kräftigen Kräutern.

Odysseus wälzte sich wie eine Blutwurst

Blutwurst gilt als die älteste Wurst und wir schon in Homers «Illias» genannt. Nach einem Sieg und einem Festgelage wälzt sich der schlaflose Odysseus im Bett von einer Seite zur anderen, so wie man «eine Magenwurst nach beiden Seiten umdreht, damit sie schnell brate». Weiter im Text wird klar, dass der Vergleich sich auf eine Blutwurst bezieht. Wie die Blutwurst von Homer geschmeckt hat und welche Konsistenz sie hatte, wissen wir leider nicht. Ein Blick auf die Schlachtplatte verschiedener Länder zeigt, dass Blutwürste ganz unterschiedlich daherkommen: In der Schweiz ist dies eine Wurst von eher weicher Konsistenz, die Rahm und eine fein zerkleinerte Blut-Schwarten-Masse enthält. In Österreich und vor allem in Deutschland ist die Blutwurstvielfalt gross, die Wurst aber in der Regel fester und kann sogar in Scheiben geschnitten werden durch die Zugabe von Speck und Muskelfleisch. In England besteht der klassische «black pudding» aus Blut, allerlei Fleischteilen und Haferflocken oder Getreide. In Skandinavien versteht man unter einer Blutwurst ein Gemenge aus Blut, Fett, Kräutern und Mehl.

Klassisches irisches Frühstück mit Blutwurst, „black pudding“. CC by Jules

Von Blutpudding bis Blutpfannkuchen

Bleiben wir noch etwas in Skandinavien, wo die Blutrezepte-Vielfalt am höchsten ist. Hier gibt es neben der Blutwurst auch Blutpudding, Blutpfannkuchen oder Blutbrot. Je nachdem, wieviel Mehl (meist Roggen- oder Gerstenmehl) man zum Blut gibt, entsteht eine flüssigere oder festere Masse, die man braten, in Brühe kochen oder backen kann. Das Blutbrot kann man trocknen und zum Frühstück in Kaffee, Milch oder Tee tunken oder eine Suppe oder einen Eintopf damit eindicken. Auch das norddeutsche Schwarzsauer begegnet uns wieder in Form der «svartsoppa», die man traditionell aus Enten- oder Gänseblut zubereitet.

Zutaten für pfahlbautaugliche Blutklösschen.

Ein Klumpen Blut als Wanderproviant

Besonders spannend ist eine Konservierungsmethode der Samen (die indigene Bevölkerung Skandinaviens und Russlands): Blut, hier bevorzugt Rentierblut, wird getrocknet und ist dadurch sehr lange haltbar und leicht zu transportieren. Wir haben dazu verschiedene Anleitungen gefunden. Entweder schlägt man das frische Blut auf, damit es nicht gerinnt oder aber man trennt es gezielt in seine verschiedenen Bestandteile auf. Dies ist zu empfehlen, denn wie uns ein Same verraten hat, verderben die weissen Blutkörperchen schneller. Dazu lässt man Blut in einem Eimer stehen, wo es sich schichtweise ablagert: Das dicke, rote Blut zuunterst (rote Blutkörperchen), in der Mitte das geronnene Blut in Klumpen und zuoberst dünnes, fast durchsichtiges Blut (Blutserum).

In dünnne (Serum) und dicke Bestandteile (Blutkörperchen und Blutplättchen) aufgetrenntes Blut.

Nach alter Tradition bereitet man aus dem frischen, dünnen Blut Essen zu, kocht Hundefutter aus dem geronnenen und füllte das dicke But von zuunterst in Magensäcke, um es zu trocknen. Davon erzählt der Bauer Dynesisu aus Malmberget in schwedisch Lappland 1889: «Das (Rentier-)Blut wird gesiebt und leicht gesalzen. Danach näht man es in einen zuvor sorgfältig gereinigten Rentiermagen ein, den man im Vorratshaus aufhängt. Hier trocknet das Blut vom Winter bis zum Sommer.» Für eine lange Wanderung oder eine Jagdtour brauchte man nur einen Klumpen getrocknetes Blut mitzunehmen, es in etwas Wasser aufzulösen, nach Gusto Mehl zuzufügen und schon hatte man eine kräftigende Mahlzeit; Outdoornahrung lange vor der Erfindung gefriergetrockneter Bergsteigermenus.

Fladenbrot mit Blut kann man aus getrocknetem Blut zubereiten.

Das Thema ist noch nicht ausgeschöpft und in den modernen Küchen findet wieder eine Auseinandersetzung mit dem altbewährten Lebensmittel Blut statt. Köch*innen verwenden es für salzige und süsse Speisen und nehmen Blut auch als Ersatz für Eier unter die Lupe. Damit lässt sich nämlich auch wunderbar backen, etwa einen Schokoladenkuchen. Wir servieren dir als klassisches Rezept Blutklösschen und als neue Variante Blutbuben, unser Favorit für die diesjährigen Weichnachtsguetzli. Wagst auch du dich an anderes als die Blutwurst? Warne den Metzger deines Vertrauens vor und bestelle ein oder zwei Liter vom roten Lebenssaft. Vielleicht kriegst du ihn gratis, da – bislang – die Nachfrage nicht gross ist.

Portrait Katharina Schäppi

Facts

sobre mesa – Begegnungen Rund um Esskultur. Mit einer Sammlung von Rezepten und Artikeln zu Blut als Lebensmittel

Schwedische Website zu traditioneller Esskultur in Schweden.

Asp, Elaine (2019) Självklart. Sydsamisk mat tolkad av Elaine Asp.

Huuva, Per (2020) Aitta. Ursrungsmat med rötterna i den samiska och tornedalska matkulturen.

Veganer*innen zur Pfahlbauzeit?

Fleischverzicht aus verschiedenen Gründen ist ein aktuelles Thema, pflanzliche Alternativen ebenso. In der Schweiz wurden 2009 durchschnittlich 75 kg Fleisch pro Person verzehrt, in Deutschland 88 kg. Der Fleischverbrauch ist in Mitteleuropa aber seit Jahren rückläufig. Die Zahl der Veganer*innen, also Menschen, die auf jegliche tierischen Produkte verzichten, steigt.

In den Pfahlbauten finden Archäolog*innen jeweils Hunderte von Kilogramm Tierknochen – ein eindeutiger Beleg dafür, dass vor über 5000 Jahren Jagd und Viehzucht ein wichtiger Beitrag zur Ernährung waren und die Pfahlbauer*innen regelmässig Fleisch gegessen haben. 218 Hausschweine, 82 Rinder, 64 Hirsche, 43 Wildschweine, 45 Schafe und Ziegen – so viele Tiere wurden mindestens in der jungsteinzeitlichen Siedlung Arbon-Bleiche (CH) geschlachtet und verzehrt. Nachgewiesen sind auch viele weitere essbare Tiere, darunter Biber, Schildkröten, Vögel, Fische und Frösche. Aber gab es in der Jungsteinzeit und Bronzezeit bereits Menschen, die bewusst auf tierische Produkte verzichteten?

Neben den Nutztieren assen die Pfahlbauer*innen zahlreiche Wildtierarten. Blick in das Pfahlbaudorf Thayngen-Weier (CH). Modell von Hans Bendel. © KASH

Doppelt so viel

Was auf den ersten Blick nach einem hohen Fleischkonsum aussieht, relativiert sich mit einer kleinen Rechenaufgabe: Teilt man die Fleischmenge der nachgewiesenen Schlachttiere durch 17 Jahre (belegte Siedlungsdauer) und 23 Häuser (ausgegraben) mit je circa fünf Bewohner*innen, dann bleiben am Ende pro Person und Jahr nur knapp 30 kg Fleisch. Das ist weniger als die Hälfte des heutigen Fleischverzehrs.

Fleisch: Ausnahme oder Regel?

Man nimmt an, dass in den Pfahlbauten so ziemlich alles verzehrt wurde, was essbar war. Sogar Hunde (Schnittspuren), Singvögel und Froschschenkel (verdaute Knochen) gehörten zum Speiseplan. Was auffällt: Von den Schlachtkörpern hat man jeweils alle essbaren Teile verzehrt. Diese Ganztiernutzung, heute auch als «Nose to Tail» bekannt, ist wieder ein populärer Trend. Wir kehren also ein wenig zu den Wurzeln zurück.

Die Pfahlbauer*innen assen auch Hunde. Hundeschädel aus der Pfahlbaufundstelle Thayngen-Weier (CH). © KASH

Es gibt somit genügend Beweise dafür, dass Fleisch fester Bestandteil des Speiseplans war. Man darf aber nicht vergessen, dass Tierknochen-Nachweise und berechnete Durchschnittszahlen nichts darüber aussagen, ob einzelne Personen oder Personengruppen auf Fleisch oder tierische Produkte verzichteten. Verschiedene Religionen kennen Gebote und Verbote im Zusammenhang mit der Ernährung. Dazu gehören auch der Fleischverzicht oder dass man das Fleisch bestimmter Tiere meidet. Bis heute isst man am Freitag eher Fisch als an anderen Tagen. Dies geht auf den Karfreitag zurück, an dem die Menschen im Gedenken an den Tod Jesus streng fasten und von dem das Verbot, Fleisch zu essen, auf alle Freitage des Jahres übertragen wurde – sofern sie nicht auf kirchliche Hochfeste fallen. Fisch galt nicht als Fleisch und durfte daher verzehrt werden. Auch in der Fastenzeit zwischen Aschermittwoch und Ostern sollte man Fasten und dabei auf Fleisch verzichten. Zuvor liess man es sich an der Fasnacht (Nacht vor dem Fasten), bzw. dem Karneval (Carneval = Lebe wohl, Fleisch) nochmals gutgehen. Mönche und Nonnen verzichteten noch häufiger auf Fleisch. Es ist daher sehr gut denkbar, dass auch in der Urgeschichte an bestimmten Tagen Essengebote galten oder bestimmte Personengruppen bewusst auf Fleisch verzichteten.

An christlichen Fastentagen soll kein Fleisch gegessen werden, Fisch hingegen geht.

Knochen verraten die Ernährungsweise

Aussagen zur Ernährungsweise in der Vergangenheit sind dank moderner naturwissenschaftlicher Methoden möglich. Wie wir uns ernähren, hinterlässt Spuren in unseren Knochen und Zähnen. Anhand von Kohlenstoff- (δ13C) und Stickstoffisotopen (δ15N) lässt sich noch Jahrtausende später sagen, wie sich ein Lebewesen ernährt hat. Eine Gruppe von Forscher*innen hat Knochen und Zähne von 466 Menschen aus der Jungsteinzeit und Bronzezeit Deutschlands untersucht. Die Ergebnisse zeigten, dass die Lebensmittelversorgung von Gemeinschaften zum Beginn der sesshaften, bäuerlichen Lebensweise vorwiegend aus Pflanzen bestanden. Erst mit der Zeit stieg der Fleischkonsum und nahm bis zur Bronzezeit stetig zu. Ab dann spielten auch Milch und Milchprodukte zunehmend eine Rolle in der Ernährung. Keine der Proben menschlicher Knochen wies auf eine rein pflanzliche Ernährung hin.

Milchprodukte wie diesen Frischkäse gab es vermehrt ab der Bronzezeit.

Ein weiteres Resultat der Untersuchungen war, dass über alle untersuchten Epochen die Männer mehr Fleisch gegessen haben als die Frauen. Nicht so in der Schweiz, zumindest nicht während der Jungsteinzeit in Oberbipp im Kanton Bern. Die Isotopenuntersuchungen an Knochen von 16 Bestatteten aus einem Dolmengrab (aus Steinblöcken errichtetes Grab) ergab einen ausgeglichenen Fleischkonsum zwischen den Geschlechtern. Gleichstellung in der Schweiz, Vorzugsbehandlung der Männer in Deutschland: Welche sozialen oder kulturellen Ursachen dahinterstecken, bleibt im Dunkel der Geschichte verborgen. Fakt ist, dass noch heutzutage Männer fast doppelt so viel Fleisch essen wie Frauen. Wie würden dies wohl künftige Forscher*innen bewerten?

Isotopenuntersuchungen an Skeletten aus der Jungsteinzeit und Bronzezeit ergaben einen Unterschied im Fleischkonsum der Geschlechter. Werte der Männer (rot), Frauen (blau). CC by A. Münster et al.

Saisonale Flexitarier*innen

Im Laufe des PalaFitFood-Jahres wurde uns bewusst, wie stark die Jahreszeiten das Lebensmittelangebot der Pfahlbauer*innen prägten: Frösche gab’s nur im Februar und März, wenn die Grasfrösche zum Laichen zu den Gewässern zogen. Rührei, Omelett oder Kuchen mit Eiern konnte man nur während der Brutzeit der Wildvögel zubereiten. Die Milchsaison begann im zeitigen Frühjahr mit den ersten Kälbern, Lämmchen und Zicklein und endete im Spätherbst. An Wildgemüse gab es nur das, was gerade wuchs. Die Pfahlbauer*innen waren daher saisonal bedingte Flexitarier*innen. Auch der Verzicht auf Milch dürfte kein bewusster gewesen sein, sondern ergab sich für die meisten Menschen genetisch bedingt durch die von der Jungsteinzeit bis in die Bronzezeit vorherrschende Laktoseintoleranz. Bei diesem beschränkten Lebensmittelangebot drängt sich ein zusätzlicher, bewusster Verzicht auf gewisse Lebensmittel nicht gerade auf. Wenn zudem das Essen knapp wird, kann man kaum noch wählerisch sein. Konsequente Veganer*innen bei den Pfahlbauer*innen hätten neben Honig, Milch, Fleisch und Eiern auch auf Lederschuhe, Lederbekleidung, Wollstoffe, Werkzeuge aus Knochen, Federn für die Pfeile, Hautleim und den Schmuck aus Tierzähnen verzichten müssen. Als Alternativen standen Bastschuhe, Leinenstoffe und Geräte aus Holz oder Stein zu Verfügung. Pfeil und Bogen hätten sie als Veganer*innen sowieso nicht gebraucht. Die bewusste Entscheidung zum Verzicht auf jegliche tierischen Produkte dürfte ein «Luxus» unserer Zeit sein bzw. eine Folge davon, wie wir heute mit Tieren umgehen.

Pflanzliche und tierische Lebensmittel der Jungsteinzeit.

Wenn wir ein Tier schlachten, dann sollten wir nicht nur das Filet essen und die Hälfte des Schlachtkörpers zu Hundefutter verarbeiten oder gar wegwerfen. Zu einem respektvollen Umgang mit Tieren gehört auch, dass wir es ganz verwerten. Darum unser Tipp: Wage dich an die ungewöhnlichen Stücke und frage beim Metzger deines Vertrauens einmal nach „Nose to Tail“-Stücken. Wir probieren es immer wieder aus und sind begeistert, wie gut auch weniger bekannte Teile des Tieres schmecken. Unter den Rezepten findest du einige Anregungen dazu.

Portrait Katharina Schäppi
Portrait Renate Ebersbach

Archäofacts

Münster A, Knipper C, Oelze VM, Nicklisch N, Stecher M, Schlenker B, et al. (2018) 4000 years of human dietary evolution in central Germany, from the first farmers to the first elites. PLoS ONE 13(3).
DOI: doi.org/10.1371/journal.pone.0194862

Lösch, S. et al. (2020) Bioarchäologische Untersuchungen der Knochen aus dem Dolmen von Oberbipp, Steingasse. Archäologie Bern 2020, 202-230.
boris.unibe.ch/145206/

Nose to Tail: Die Pfahlbauer*innen als Trendsetter

„Nose to Tail“: Dieser Food-Trend hat nur einen neuen Namern, er existiert aber schon lange. Bei unseren Grosseltern hiessen die entsprechenden Gerichte „Schnörrle und Öhrle“, „saure Nierle“ oder „Lungenhaschée“. Die Idee dahinter ist vermutlich ebenso alt wie das Essen von Fleisch selber: Wenn man schon ein Tier schlachtet oder erlegt, isst man am besten alles, was essbar ist – und das ist ziemlich viel. Auf jeden Fall aber viel mehr, als wir heute denken. Aus dem Rest des Tieres macht man Kleidung, Taschen, Behälter, Schnüre, Werkzeuge, Geräte oder Leim. Nicht zu vergessen die schmückende und symbolische Bedeutung von Tierteilen: Gamsbart und Hirschgeweih-Knöpfe sind bis heute Bestandteil mancher Tracht, und an manchem alten Stall findet man noch Rinderschädel oder Bukranien (Stirnteil mit Hörnern) .

Rinderbukranium aus der Pfahlbaufundstelle Arbon-Bleiche (CH). © AATG, bearbeitet

Wer zu viel frisst, wird geschlachtet

Nutztierhaltung heisst auch, dass der Mensch entscheidet, welche Tiere im Winter durchgefüttert werden. Schaf, Ziege, Schwein und Kuh fressen über den Winter genauso viel wie im Sommer, aber die Natur gibt viel weniger Ess- bzw. Fressbares her. Da heisst es, Vorräte anlegen und planen. Wenn Arbeitskraft, Platz oder die Vorräte an Winterfutter nicht ausreichen, werden zu Anfang des Winters diejenigen Haustiere geschlachtet, die man nicht überwintern kann oder will. Typisches Gericht dieser Jahreszeit ist die Schlachtplatte, auf der vor allem die leicht verderblichen Bestandteile des Tierkörpers landen wie Blut, Leber oder Darm (als Wursthaut). Ohne Kühlschrank etwas länger lagerbar ist das Muskelfleisch, Rindfleisch kann man z. B. locker zwei Wochen abhängen lassen – und ein gut rauchendes Feuerchen darunter hält das Ungeziefer fern. Mit Einkochen/Beizen, Einlegen, Räuchern oder Salzen kann man die Lagerfähigkeit auf Monate, ja sogar Jahre ausdehnen (z. B. Sauerbraten, „Pfeffer“, Brühwurst, Sülze/Aspik, Schinken, Speck). Dass auch die Pfahlbauer*innen sich schon im Spätherbst an der Schlachtplatte labten, wissen wir von der Untersuchung der Tierknochen.

Zum Räuchern aufgehängte Fische. © B. Hänni

Knochen für den Hund

Während man Blut- und Leberwurst noch heute während der Saison an der Metzgertheke erhält, ist das bei den meisten anderen essbaren Fleischteilen eines Tierkörpers schon schwieriger. Wer nach Kutteln, Leber, Herz, Ochsenschwanz oder Schweinehaxe fragt, hat noch Chancen, diese Teile beim Metzger vorzubestellen. Auch Knochen bekommt man in der Regel „für den Hund“. Dies zeigt sehr gut, welchen Stellenwert die Verwertung von Körperteilen unserer Nutztiere heute hat, die nicht als Steak, Filet, Braten, Gulasch oder wenigstens Hackfleisch in der Kühltheke des Supermarktes verkauft werden können.

Ins Bauchnetz …
kann man Fleisch einwickeln und danach zum Räuchern aufhängen.

Hoden stärkt die Manneskraft

Noch zu Zeiten unserer Eltern und Grosseltern  oder Urgrosseltern war das ganz anders: Alle Teile des Tieres, die essbar waren, hat man gegessen, auch Hirn, Lunge, Drüsen wie Kalbsbries, Füsse, Ohren, Schnauzen, Schwänze, Nieren, Milz, Hoden und anderes. Notfalls konnte man Körperteile immer noch auskochen und daraus eine gute Brühe machen oder klein hacken und zu Wurst verarbeiten.  

Herz und Leber vom Schwein.

Verschiedenen Organen sagte man sogar nährende oder heilende Wirkungen nach, so soll Bries gut für Kinder sein und der Verzehr von Hoden stärke die Manneskraft. Dazu erzählte eine Freundin aus der Babyboomer-Generation vom Emmentaler Bauernhof, auf dem sie aufwuchs, folgende Geschichte: „Wenn ein Stier geschlachtet wurde, lud der Besitzer andere Männer im Tal zum ,Bolle-Esse‘ ein. Das Gericht haben sie nicht im normalen Essraum verzehrt, sondern in einer Kammer, wo Frauen und Kinder keinen Zutritt hatten (aber das Gericht vermutlich gekocht haben).“ Leider konnte sie sich nicht an die Zutaten und die Zubereitungsart erinnern.

Leim aus Haut und Knochen

Bei den Ausgrabungen eines jungsteinzeitlichen Pfahlbaudorfes beim Opernhaus Zürich (CH) fanden die Ausgräber*innen einen Pfeilbogen. Dieser war mit Rinde beklebt. Naturwissenschaftliche Untersuchungen ergaben, dass man hierfür Leim aus Rinder- oder Ziegenhaut verwendet hat. Es ist der älteste Nachweis für die Verwendung von Hautleim in Europa. Bis zur Erfindung von synthetischen Klebstoffen setzte man Hautleim beim Buchbinden oder für den Instrumentenbau ein, d. h. für Verbindungen, die flexibel bleiben mussten. Die Bogenbauer*innen von Zürich hatten also den perfekten Klebstoff gewählt.

Auch aus Knochen kann man Leim herstellen. Zerschlagene Tierknochen gibt es aus Pfahlbausiedlungen zuhauf. Sie werden meist mit der Gewinnung von Knochenmark in Zusammenhang gebracht. Dass man den Rest ungenutzt weggeworfen hat, ist aber eigentlich schwer vorstellbar. Ausgekochte Knochen ergeben zunächst einen Gelee, den man für Sülze verwenden kann. Damit kann man wunderbar Fleisch oder Gemüse konservieren. Klassische Sülze enthält Fleisch vom Schweinskopf und/oder von Kalbsfüssen. Durch das Aufkochen dieser Fleischteile, die reich an Knochen, Knorpel und Bindegewebe sind, tritt besonders viel Gallert (denaturiertes Kollagen) aus. Dampft man das Knochen-Kochwasser weiter ein, erhält man Leim. Er ist klebstark und eignet sich für harte Verbindungen. Da der Leim jedoch wasserlöslich ist, steht ein Beleg für dessen Verwendung in der Urgeschichte bislang aus.

Aufgeschlagener Schweinekiefer aus der Pfahlbaufundstelle Arbon-Bleiche (CH). © AATG, bearbeitet

Anatomische Kenntnisse von Vorteil

Bleiben wir beim Knochenzerhacken. Im Gegensatz zu den Römern hatten die Pfahlbauer noch keine Eisenaxt, mit der sie die Tiere einfach zerlegen konnten – ganz zu schweigen von der heute üblichen Kettensäge. Wenn man jedoch die Anatomie der Tier gut kennt, taugt auch ein Silex- oder Bronzemesser. Erfahrene Metzger*innen konnten früher mit dem Messer Tiere so zerlegen, dass kaum Spuren am Skelett zurückblieben. Vermutlich konnten das auch die meisten Pfahlbauer*innen. Schnittspuren von Silexmessern findet man eigentlich nur dort häufig, wo es komplizierter wird, das Fleisch vom Knochen zu lösen, also am Rumpf, d. h. vor allem an Rippen, Wirbelsäule und Becken. Ausserdem sind sie an den Pfoten/Füssen und am Schädel häufig. Hier ging es darum, das Fell abzuziehen. Wenn man kleine bzw. junge Tiere lange im Ganzen kocht oder grilliert (z. B. Lämmer oder Zicklein), kann man das Fleisch ohne Werkzeugeinsatz (ausser den Fingern) von den Knochen lösen. Wir kennen das heute noch vom Brathähnchen, das hingegen war den Pfahlbauer*innen noch nicht bekannt.

Mit der Säge halbierter Schweinekopf.

Die Untersuchung von Brand-, Hack-, Schnitt- und Schabespuren sowie der Grösse der Knochenfragmente gibt auch Aufschluss über die Zerteilung von Schlachtkörpern und deren Zubereitung. So zeichnet sich oft ab, dass Hirsche und andere Jagdbeute weniger klein zerlegt und öfter am offenen Feuer gebraten oder gegrillt wurden als Rinder bzw. Haustiere. In manchen Zeiten haben auch Hundeknochen typische Schlachtmuster, die auf das Entfernen der fleischreichen Teile hinweisen.

Ohren, Schwanz und Füsse vom Schwein.

„Schnörrle und Öhrle“ mit dicker Erbsensuppe ist übrigens ein traditionelles badisches Winteressen. Die Erbsen weicht man am Vortag ein und kocht sie dann mit Brühe, Suppengrün und einer Zwiebel sowie mit gesalzenem Schweinerüssel und ganzen Ohren mindestens eine Stunde lang. Dann wird das Fleisch rausgenommen, kleingeschnitten, wieder zugeben, und fertig ist die wärmende und sättigende Wintermahlzeit. Welche traditionellen Rezepte mit allen möglichen Körperteilen von Haustieren gibt es in eurer Familie noch? Wir sammeln alles, auch ohne Nachkochen und Fotos, aber natürlich am liebsten mit eurem leckeren Rezeptbeitrag für die November-Challenge.

Portrait Katharina Schäppi
Portrait Renate Ebersbach

Tierisch nützlich: Nutztiere

Tiere spielen schon seit Anbeginn der Menschheit eine wichtige Rolle für sie. Ob als Nahrungs-  oder Rohtstofflieferant, Jagdhilfe, Zugtier oder– wir blicken kurz zurück: Der Hund begleitete schon in der Altsteinzeit die eiszeitlichen Jäger- und Sammler*innen. Mit dem Beginn der bäuerlichen, sesshaften Lebensweise wurden domestizierte Rinder, Schweine, Schafe und Ziegen wichtig für die Lebensmittelversorgung. Wie neuere genetische Analysen zeigen, brachten die ersten Bauern und Bäuerinnen nicht nur Schafe und Ziegen nach Mitteleuropa – von denen es hier keine Wildformen gab – sondern auch Schweine und Rinder, obschon davon auch Wildformen in den europäischen Urwäldern herumstreiften. Später, in der Bronzezeit, kamen die Pferde dazu. Weitere traditionelle mitteleuropäische Haustiere wie Hühner, Esel und Maultiere gelangten jedoch erst in der Eisen- bzw. Römerzeit nach Europa.

Das Soay-Schaf hat wenig weiche Unterwolle, so wie die frühen Schafrassen. © Jakob Gschwind

Nose to Tail as usual

Heutige Nutztiere haben mit ihren stein- und bronzezeitlichen Vorfahren nicht mehr viel gemeinsam: Heute werden Rinder nach Fleisch- und Milchrassen unterschieden, letztere geben bis zu 9000 Liter Milch im Jahr, eine Legehenne legt bis zu 300 Eier im Jahr, Schweinen hat man ein zusätzliches Rippenpaar angezüchtet, damit es mehr Kotelett gibt, und Schafe haben Wolle. Zu Zeiten der Pfahlbauer*innen liessen sich Schafe und Ziegen zuerst kaum unterscheiden; beide hatten ein eher borstiges Fell. Wollschafe mit weicher Unterwolle wurden vermutlich erst am Ende der Jungsteinzeit oder in der Bronzezeit eingeführt. Hühner gab es noch nicht, und Rinder waren Vielnutzungstiere: Fleisch, Milch, Haut, Horn, Knochen, Arbeitskraft und vermutlich auch ihren Dung haben die Pfahlbauer*innen verwendet. Wir wissen jedenfalls, dass sie Getreide mit Mist düngten. Wenn sie Nutztiere geschlachtet haben, assen sie alles, was irgendwie essbar war, und stellten aus dem Rest des Tieres Kleidung, Werkzeuge, Behältnisse (z. B. Beutel aus Blase oder Magen), Schmuck (z. B. aus Zähnen) oder Waffen (aus Knochenspitzen) her.

Schmuckanhänger aus Tierzähnen und Steinen aus der Pfahlbaufundstelle Arbon-Bleiche (CH). © AATG, bearbeitet

Fleisch war – neben Milch und Milchprodukten – ein wichtiger Proteinlieferant. Hochrechnungen gehen davon aus, dass in der Pfahlbauzeit etwa 30% des täglichen Kalorienbedarfs über Fleisch abgedeckt worden ist. Gleichzeitig wurde aber nur etwa halb so viel Fleisch gegessen wie heute: Beträgt der Pro-Kopf-Fleischkonsum heute in der Schweiz pro Jahr 51 kg, gehen Hochrechnungen für die Pfahlbauzeit von 25 kg aus.

Die Schlacht- und Speisereste, die dann noch übrig blieben, graben Archäolog*innen oft in grossen Mengen aus. Tierknochen sind neben Keramikscherben in Pfahlbauten in der Regel die häufigsten Funde. So wurden in mehreren Pfahlbauten im Bereich der Stadt Zürich zusammen 1,4 Tonnen Tierknochen gefunden, und aus dem Pfahlbau Arbon Bleiche 3 am Bodensee analysierten Archäobotaniker*innen über 800 kg Tierknochen.

Schlachtabfälle aus der Pfahlbaufundstelle Hüttwilen (CH). © AATG, bearbeitet

Herbstschlachtung

Daraus können wir einerseits rekonstruieren, welche Tierarten wie häufig in welcher Siedlung vorkamen bzw. geschlachtet und gegessen wurden. Andererseits gibt die Zusammensetzung von Alter und Geschlecht auch Auskunft über die Nutzung der Tiere. Rinder hat man zum Beispiel besonders häufig im Alter von vier bis sechs Monaten geschlachtet, dann wieder von 14 bis 18 Monaten – also immer mit etwa einem Jahr Abstand. Wenn wir annehmen, dass die meisten Kälber im Frühjahr zur Welt kamen, spricht dies für eine gezielte Herbstschlachtung von überzähligen Jungtieren. Das gleiche Muster sehen wir bei Schweinen. Hier kann man anhand der charakteristischen Eckzähne ausserdem nachweisen, dass die geschlachteten Ferkel vor allem männliche Tiere waren. Auch im Spätwinter oder Vorfrühling hat man das eine oder andere Tier wohl noch geschlachtet, wenn andere Nahrungsmittel zur Neige gingen.

Die Tierknochenanalyse kann uns aber noch mehr erzählen: Aufgeschlagene Röhrenknochen zeigen, dass auch das Knochenmark ein begehrtes Nahrungsmittel war. Pathologische Veränderungen an Gelenken weisen etwa auf die Nutzung von Tieren als Zug- oder Reittiere hin, ebenso wie Funde von Jochen aus Holz. Spätestens mit der Einführung von Rad und Wagen vor etwa 5’000 Jahren wurde es notwendig, Rinder vor den Wagen zu spannen – Pferde gab es zu dieser Zeit noch nicht. Auch ein Pflug ist gegenüber einer Hacke nur dann eine Arbeitserleichterung, wenn er von eigens dafür ausgebildeten Tieren gezogen wird, am besten von mindestens zwei Kühen oder Ochsen. Je kräftiger die Zugtiere waren, desto tiefer konnte man pflügen.

Wirbel eines Hausrindes (Bos taurus) mit Knochenveränderungen, die wahrscheinlich vom Tragen eines Joches herrühren. © AATG, bearbeitet
Holzrad aus der Pfahlbaufundstelle Olzreute-Enzisholz (D). © Yvonne Mühleis, LAD

Vom Zwergrind zum Zugochsen

Gross und kräftig waren die Nutztiere der Pfahlbauer*innen allerdings nicht. Eher im Gegenteil: durch die Domestikation wurden die Nutztiere zunächst immer kleiner. Am kleinsten sind Rinder vor etwa 5000 Jahren, in der sogenannten Horgener Kultur. Sie erreichten selten mehr als 1,10 m Wiederristhöhe, was ungefähr der Grösse eines heutigen Ponys entspricht. Die Kühe heutiger Hochleistungsrassen wie Holsteiner Fleckvieh sind dagegen durchschnittlich 1,45 Meter gross und 700 kg schwer.

Ein paar Jahrhunderte später, zum Ende der Jungsteinzeit (ca. 2750–2500 v.Chr. oder Schnurkeramische Kultur) können wir eine Diversifizierung bei der Rinderhaltung beobachten: Die Tiere werden grösser, vielleicht weil sie besseres Futter bekommen haben, vielleicht auch durch die Einführung neuer Rassen. Gleichzeitig zeichnen sich Unterschiede bei der Nutzung von männlichen und weiblichen Tieren ab. So sind auffällig grosse männliche Tiere bekannt: Ein Exemplar aus einer Fundstelle am Zürichsee brachte es immerhin schon auf ca. 1,50 Meter Widerristhöhe. Sie wurden wohl als starke Arbeitstiere gezüchtet, eben als Zugochsen. Die grossen Kühe lieferten zudem mehr Milch. Die Intensivierung der Milchwirtschaft um diese Zeit, also der vermehrte Verzehr von Frischmilch, lässt sich über Analysen der Nahrungskrusten an den Töpfen nachweisen. Und die Pfahlbauer*innen gewöhnten sich langsam an den Milchkonsum. Untersuchungen von menschlichem Zahnstein und der DNA weisen auf eine verstärkte Laktose-Toleranz bei Erwachsenen ab der Schnurkeramik hin(verweis Blog Milchprodukte).

Von der Grösse her entsprechen die schottischen Hochlandrinder den jungsteinzeitlichen Rindern, sie haben aber andere Hörner. CC by Agnes Monkelbaan, bearbeitet

Haariges Schweineschnitzel

Die Pfahlbauer*innen der Horgener-Zeit hatten zwar sehr kleine Rinder, aber sie investierten dafür viel in die Schweinezucht. Schweineknochen sind in der Zeit die häufigsten Funde. Im Gegensatz zu Rindern hat ein Schwein jedes Jahr mehrere Jungtiere, d.h. der Herdenbestand kann viel schneller wachsen. Schweine sind ausserdem als Allesfresser weniger heikel mit dem Futter.

Isotopenuntersuchungen an Schweinezähnen aus der Pfahlbaufundstelle Arbon-Bleiche (CH) zeigen, dass diese sich hauptsächlich vegetarisch ernährt haben, sie frassen also pflanzliche Küchenabfälle. Und wenn man ein paar Schweine auf einen abgeernteten Acker stellt und einzäunt oder bewacht, damit sie nicht ins saftigere Umland ausbrechen, hat man den Acker auch gleich schon „gepflügt“ und die Hälfe des Unkrautes und der Stoppeln sind im Magen der Schweine gelandet. Alternativ versorgten sich die Schweine in der Herbstsaison auf einer Waldweide selbst mit Eicheln oder Bucheckern. Ab- und zu dürfte dabei sogar wieder Wildschweinblut eingekreuzt worden sein. Was wiederum den heutigen Archäozoolog*innen die Unterscheidung von Haus- und Wildschweinknochen erschwert.

Das Düppeler Weideschwein, eine Rückzüchtung mittelalterlicher Schweinerassen zeigt die Vielfalt und die Ähnlichkeit zu Wildschweinen. CC by AFM Oerlinghausen, bearbeitet

Als Fleischtier ist Schwein also ideal: wenig Arbeit, viel Ertrag. Die Horgener hatten zwar keine hübsche Keramik, aber sie waren extrem effiziente und pragmatische Leute.

Portrait Renate Ebersbach
Archäofacts

Deschler-Erb, S./Marti-Grädel, E./Schibler, J. (2002) Die Knochen-, Zahn und Geweihartefakte. In: A. de Capitani et al. (Hrsg.) Die jungsteinzeitliche Seeufersiedlung Arbon-Bleiche 3. Funde. Archäologie im Thurgau II (Frauenfeld) 277-366.

Hüster-Plogmann, H./Schibler, J. (1997) Archäozoologie. In. J. Schibler et al. (Hrsg). Ökonomie und Ökologie neolithischer und bronzezeitlicher Ufersiedlungen am Zürichsee. Monographien der Kantonsarchäologie Zürich (Zürich und Egg) 40-121.

Schibler, J./Schäfer, M. (2017) Von Hand aufgelesene Tierknochen. In: N. Bleicher/Ch. Harb (Hrsg.) Zürich-Parkhaus Opéra. Eine neolithische Feuchtbodenfundstelle. Bd. 3, Naturwissenschaftliche Analysen und Synthese (Zürich und Egg) 92-127.

Zur Domestizierung der Schweine: science.orf.at/v2/stories/2989875/

Leinöl und Schweineschmalz: Das Pfahlbau-Superfood

Lebensmittel, die uns gesünder, fitter und schöner machen, sind die Stars der Foodszene. Dass sogar die Pfahlbauer*innen schon solches Superfood im erweiterten Sinn gekannt haben, war ihnen vielleicht gar nicht bewusst. Oder eben gerade schon: Wenn ein Lebensmittel verschiedenste Zwecke erfüllt und vielleicht erst noch die Gesundheit positiv beeinflusst, dann sollte man sich das genauer anschauen, oder? Also lasst euch vom pfahlbauzeitlichen Superfood überzeugen: Den Ölen und Fetten!

Reifende Leinkapseln.

Lein: der Alleskönner

Leinsamen haben einen hohen Anteil an Omega-3-Fettsäuren und verdauungsfördernden Ballaststoffen. Die darin enthaltenen Schleimstoffe wirken sich positiv auf die Darmflora aus und sie sollen sogar den Cholesterinspiegel senken. Es heisst, ein Löffel Leinsamen pro Tag, verbessere unsere Gesundheit.

Leinsamen und -kapseln.

Lein (Linum usitatissimum) haben schon die Pfahlbauer*innen angebaut. Aus den Leinsamen presste man hochwertiges Öl, so dass wir dieses Gewächs als wichtigste Ölpflanze der Pfahlbauzeit bezeichnen können. Leinöl sollte man nicht erhitzen und eher in der kalten Küche verwenden, z. B. für die Salatsauce oder das Abschmecken von Gemüse. Man kann es auch als Holzschutz, Färbe- und Konservierungsmittel benutzen. So bestehen die Lacke, mit denen Geigenbauer ihre Streichinstrumente behandeln, seit Jahrhunderten aus Naturharzen, die in Leinöl gelöst sind.

Verkohlte Leinkapseln aus der Pfahlbaufundstelle Hornstaad-Hörnle. © AATG, bearbeitet

Die Überreste der Pressung – sogenannte Presskuchen – finden sich da und dort in den organischen Fundschichten und in Tierexkrementen. Die Reste der Ölherstellung wurden also verfüttert. Leaf to Root, die ganzheitliche Verwertung von Pflanzen, war also bereits vor Jahrtausenden ein Thema.

Größenvergleich des Öl-Leinsamens (links) mit dem des Faserleins (rechts). Strich = 1 mm. © LAD, bearbeitet

Lein hat man in einzelnen Pfahlbausiedlungen im grossen Stil angebaut. Das hängt neben der Gewinnung der Samen damit zusammen, dass Lein – der auch als Flachs bezeichnet wird – die wichtigste kultivierte Faserpflanze der Pfahlbauzeit war. Mit der Zeit enstanden zwei Varietäten des Leins: Eine kurze, verzweigte mit vielen Kapseln und grossen Samen für die Ölproduktion und eine langstielige, wenig verzeigte für die Faserproduktion. Die Fasern im Innern der langen Stängel hat man zu Schnüren und Geweben weiterverarbeitet für Kleidung, Fischernetze und vieles mehr. Es verwundert daher nicht, dass man die Überreste der vielfältig nutzbaren Pflanze regelmässig und stellenweise auffällig häufig in pfahlbauzeitlichen Fundschichten antrifft. Besonders auffällig sind die sogenannten «Leinscheben» (oder «Flachsschäben»): der holzige Anteil der Stängel, der bei der Gewinnung der Fasern durch Brechen entfernt wird. In gewissen Siedlungen entsteht sogar der Eindruck, dass die Bewohner*innen über den Eigenbedarf hinaus Flachs angebaut und sich auf dessen Verarbeitung spezialisiert hatten.

Hölzerne Teile von Flachsstengeln aus der Pfahlbaufundstelle Alleshausen-Grundwiesen (D). © LAD, bearbeitet

Schlafmohn: Öl und Gift

Die einen denken bei Mohn an knallrote Blumen am Wegrand, an die kleinen schwarzen Samen auf dem Brötchen oder eine leckere Kuchenfüllung – andere wiederum an was ganz anderes: Rauschgift. Schlafmohn (Papaver somniferum) gehört zu den ältesten Kulturpflanzen. Da die runden Kapseln bis zu 2000 Samen enthalten, galt der Schlafmohn in der Antike auch als Symbol der Fruchtbarkeit.

Schlafmohnsamen aus der Pfahlbaufundstelle Sipplingen (D). © LAD, bearbeitet

Angebaut wurde Mohn unter anderem zur Gewinnung von Öl, das aus den Samen kalt gepresst wird. Mohnöl punktet mit einem hohen Gehalt an ungesättigten Fettsäuren und wird ähnlich wie Leinöl eingesetzt. Neben kulinarischen Zwecken wendet man das Öl heute auch zur Körperpflege an und es werden Seifen und Farben daraus hergestellt. Die Herstellung von Mohnöl ist archäologisch zwar nicht belegt, aber durchaus denkbar.

Schlafmohn hat, im Gegensatz zum rotblühenden Klatschmohn, violette Blütenblätter.

Mohn kann noch mehr. In der Kapsel, aber auch in anderen Pflanzenteilen, fliesst ein opiumhaltiger, weisser Milchsaft. Kurz nach dem Verblühen enthält die Kapsel am meisten davon. Durch Anritzen kann man diesen Saft als klebrige braune Masse gewinnen. Diese enthält verschiedene Alkaloide (von denen das Morphin das bekannteste ist), die als Grundlage für die Herstellung von Rauschgiften wie Opium oder Heroin dienen. Der reine Wirkstoff, das Morphium, hat bis heute als eines der stärksten Schmerzmittel eine Bedeutung in der Medizin. Die Giftstoffe wirken auf das zentrale Nervensystem und auf die Atmung. Präparate aus Opium wirken schmerzstillend, beruhigend und einschläfernd – daher auch die Bezeichnung Schlafmohn. Aber Achtung: Eine Überdosierung kann zum Tod führen!

Reifende Mohnkapseln.

Schmalz und Talg

Bei tierischen Fetten denkt heute wohl niemand mehr an Superfood. Angesichts der nahenden kalten Jahreszeit dürfte das früher aber anders beurteilt worden sein. Dank ihrem hohen Kaloriengehalt eignen sich Schmalz und Talg jedenfalls zum Anlegen von Reserven im doppelten Sinn: Einerseits sind sie lange lagerfähig, und andererseits kann der Mensch sich beim Verzehr von ausreichenden Mengen ein wärmendes Polster zulegen.

Reines Schmalz kann man aus dem Fettgewebe, besonders dem Bauchwandfett von Schweinen, gewinnen. Dieses lässt man am besten frisch nach der Schlachtung aus und bratet es dafür bei mässiger Temperatur, damit das Fett austritt. Um eine klare Farbe zu erreichen, sollte man das ausgelassene Fett zusätzlich filtern. Das als Talg bezeichnete Schlachtfett von Rindern hat einen höheren Schmelzpunkt. In beiden stecken alle Fettsäuren, die wir benötigen: Gesättigte, Ungesättigte und Hochungesättigte. Schmalz und Talg sind daher zum Beispiel in der Paleoküche wieder ein Thema geworden.

Knochen kochen

Auch das Abfallprodukt Knochen enthält noch viel Fett und andere Nährstoffe. Wie unsere Omas wussten: Nichts schmeckt besser als eine selbstgemachte Knochenbrühe – gerade, wenn man krank ist! Brühe soll sogar das Immunsystem unterstützen und so etwa einer Erkältung aktiv entgegenwirken.

Durch stundenlanges Kochen gewinnt man alles Nahrhafte aus einem Knochen, neben Fett auch Proteine wie Kollagen. Knochen besteht zu einem Drittel aus diesem wichtigen Bindegewebsprotein, das unseren Körper elastisch und widerstandsfähig macht. Die ausgekochte Gelatine liefert Aminosäuren. Bei knorpelhaltigen Knochen kommen Glykosaminoglykanen wie Hyaluronsäure und Chondroitinsulfat dazu, die heute aus der Anti-Aging-Kosmetik bekannt und zur Bildung von neuem Bindegewebe nötig sind. Durch Beifügen von Säure löst sich auch das Kalzium aus, weshalb viele Rezepte für Knochenbrühen auch eine Form von Säure wie Apfelessig enthalten.

Die gehaltvollste Substanz steckt aber im Knocheninnern: das Knochenmark, welches reich an Omega-3-Fettsäuren ist. Die unzähligen, aufgeschlagenen Tierknochen aus den Pfahlbausiedlungen bezeugen, dass die Köch*innen das Mark bereits damals systematisch gewonnen haben.  

Aufgeschlagene Schweinknochen. © AATG, bearbeitet

Greift doch das nächste Mal zu Lein- und Mohnöl für die Salatsauce. Oder versucht euch an einer Brühe nach Omas Rezept!

Portrait Simone Benguerel

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