„Nose to Tail“: Dieser Food-Trend hat nur einen neuen Namern, er existiert aber schon lange. Bei unseren Grosseltern hiessen die entsprechenden Gerichte „Schnörrle und Öhrle“, „saure Nierle“ oder „Lungenhaschée“. Die Idee dahinter ist vermutlich ebenso alt wie das Essen von Fleisch selber: Wenn man schon ein Tier schlachtet oder erlegt, isst man am besten alles, was essbar ist – und das ist ziemlich viel. Auf jeden Fall aber viel mehr, als wir heute denken. Aus dem Rest des Tieres macht man Kleidung, Taschen, Behälter, Schnüre, Werkzeuge, Geräte oder Leim. Nicht zu vergessen die schmückende und symbolische Bedeutung von Tierteilen: Gamsbart und Hirschgeweih-Knöpfe sind bis heute Bestandteil mancher Tracht, und an manchem alten Stall findet man noch Rinderschädel oder Bukranien (Stirnteil mit Hörnern) .

Rinderbukranium aus der Pfahlbaufundstelle Arbon-Bleiche (CH). © AATG, bearbeitet

Wer zu viel frisst, wird geschlachtet

Nutztierhaltung heisst auch, dass der Mensch entscheidet, welche Tiere im Winter durchgefüttert werden. Schaf, Ziege, Schwein und Kuh fressen über den Winter genauso viel wie im Sommer, aber die Natur gibt viel weniger Ess- bzw. Fressbares her. Da heisst es, Vorräte anlegen und planen. Wenn Arbeitskraft, Platz oder die Vorräte an Winterfutter nicht ausreichen, werden zu Anfang des Winters diejenigen Haustiere geschlachtet, die man nicht überwintern kann oder will. Typisches Gericht dieser Jahreszeit ist die Schlachtplatte, auf der vor allem die leicht verderblichen Bestandteile des Tierkörpers landen wie Blut, Leber oder Darm (als Wursthaut). Ohne Kühlschrank etwas länger lagerbar ist das Muskelfleisch, Rindfleisch kann man z. B. locker zwei Wochen abhängen lassen – und ein gut rauchendes Feuerchen darunter hält das Ungeziefer fern. Mit Einkochen/Beizen, Einlegen, Räuchern oder Salzen kann man die Lagerfähigkeit auf Monate, ja sogar Jahre ausdehnen (z. B. Sauerbraten, „Pfeffer“, Brühwurst, Sülze/Aspik, Schinken, Speck). Dass auch die Pfahlbauer*innen sich schon im Spätherbst an der Schlachtplatte labten, wissen wir von der Untersuchung der Tierknochen.

Zum Räuchern aufgehängte Fische. © B. Hänni

Knochen für den Hund

Während man Blut- und Leberwurst noch heute während der Saison an der Metzgertheke erhält, ist das bei den meisten anderen essbaren Fleischteilen eines Tierkörpers schon schwieriger. Wer nach Kutteln, Leber, Herz, Ochsenschwanz oder Schweinehaxe fragt, hat noch Chancen, diese Teile beim Metzger vorzubestellen. Auch Knochen bekommt man in der Regel „für den Hund“. Dies zeigt sehr gut, welchen Stellenwert die Verwertung von Körperteilen unserer Nutztiere heute hat, die nicht als Steak, Filet, Braten, Gulasch oder wenigstens Hackfleisch in der Kühltheke des Supermarktes verkauft werden können.

Ins Bauchnetz …
kann man Fleisch einwickeln und danach zum Räuchern aufhängen.

Hoden stärkt die Manneskraft

Noch zu Zeiten unserer Eltern und Grosseltern  oder Urgrosseltern war das ganz anders: Alle Teile des Tieres, die essbar waren, hat man gegessen, auch Hirn, Lunge, Drüsen wie Kalbsbries, Füsse, Ohren, Schnauzen, Schwänze, Nieren, Milz, Hoden und anderes. Notfalls konnte man Körperteile immer noch auskochen und daraus eine gute Brühe machen oder klein hacken und zu Wurst verarbeiten.  

Herz und Leber vom Schwein.

Verschiedenen Organen sagte man sogar nährende oder heilende Wirkungen nach, so soll Bries gut für Kinder sein und der Verzehr von Hoden stärke die Manneskraft. Dazu erzählte eine Freundin aus der Babyboomer-Generation vom Emmentaler Bauernhof, auf dem sie aufwuchs, folgende Geschichte: “Wenn ein Stier geschlachtet wurde, lud der Besitzer andere Männer im Tal zum ,Bolle-Esse‘ ein. Das Gericht haben sie nicht im normalen Essraum verzehrt, sondern in einer Kammer, wo Frauen und Kinder keinen Zutritt hatten (aber das Gericht vermutlich gekocht haben).” Leider konnte sie sich nicht an die Zutaten und die Zubereitungsart erinnern.

Leim aus Haut und Knochen

Bei den Ausgrabungen eines jungsteinzeitlichen Pfahlbaudorfes beim Opernhaus Zürich (CH) fanden die Ausgräber*innen einen Pfeilbogen. Dieser war mit Rinde beklebt. Naturwissenschaftliche Untersuchungen ergaben, dass man hierfür Leim aus Rinder- oder Ziegenhaut verwendet hat. Es ist der älteste Nachweis für die Verwendung von Hautleim in Europa. Bis zur Erfindung von synthetischen Klebstoffen setzte man Hautleim beim Buchbinden oder für den Instrumentenbau ein, d. h. für Verbindungen, die flexibel bleiben mussten. Die Bogenbauer*innen von Zürich hatten also den perfekten Klebstoff gewählt.

Auch aus Knochen kann man Leim herstellen. Zerschlagene Tierknochen gibt es aus Pfahlbausiedlungen zuhauf. Sie werden meist mit der Gewinnung von Knochenmark in Zusammenhang gebracht. Dass man den Rest ungenutzt weggeworfen hat, ist aber eigentlich schwer vorstellbar. Ausgekochte Knochen ergeben zunächst einen Gelee, den man für Sülze verwenden kann. Damit kann man wunderbar Fleisch oder Gemüse konservieren. Klassische Sülze enthält Fleisch vom Schweinskopf und/oder von Kalbsfüssen. Durch das Aufkochen dieser Fleischteile, die reich an Knochen, Knorpel und Bindegewebe sind, tritt besonders viel Gallert (denaturiertes Kollagen) aus. Dampft man das Knochen-Kochwasser weiter ein, erhält man Leim. Er ist klebstark und eignet sich für harte Verbindungen. Da der Leim jedoch wasserlöslich ist, steht ein Beleg für dessen Verwendung in der Urgeschichte bislang aus.

Aufgeschlagener Schweinekiefer aus der Pfahlbaufundstelle Arbon-Bleiche (CH). © AATG, bearbeitet

Anatomische Kenntnisse von Vorteil

Bleiben wir beim Knochenzerhacken. Im Gegensatz zu den Römern hatten die Pfahlbauer noch keine Eisenaxt, mit der sie die Tiere einfach zerlegen konnten – ganz zu schweigen von der heute üblichen Kettensäge. Wenn man jedoch die Anatomie der Tier gut kennt, taugt auch ein Silex- oder Bronzemesser. Erfahrene Metzger*innen konnten früher mit dem Messer Tiere so zerlegen, dass kaum Spuren am Skelett zurückblieben. Vermutlich konnten das auch die meisten Pfahlbauer*innen. Schnittspuren von Silexmessern findet man eigentlich nur dort häufig, wo es komplizierter wird, das Fleisch vom Knochen zu lösen, also am Rumpf, d. h. vor allem an Rippen, Wirbelsäule und Becken. Ausserdem sind sie an den Pfoten/Füssen und am Schädel häufig. Hier ging es darum, das Fell abzuziehen. Wenn man kleine bzw. junge Tiere lange im Ganzen kocht oder grilliert (z. B. Lämmer oder Zicklein), kann man das Fleisch ohne Werkzeugeinsatz (ausser den Fingern) von den Knochen lösen. Wir kennen das heute noch vom Brathähnchen, das hingegen war den Pfahlbauer*innen noch nicht bekannt.

Mit der Säge halbierter Schweinekopf.

Die Untersuchung von Brand-, Hack-, Schnitt- und Schabespuren sowie der Grösse der Knochenfragmente gibt auch Aufschluss über die Zerteilung von Schlachtkörpern und deren Zubereitung. So zeichnet sich oft ab, dass Hirsche und andere Jagdbeute weniger klein zerlegt und öfter am offenen Feuer gebraten oder gegrillt wurden als Rinder bzw. Haustiere. In manchen Zeiten haben auch Hundeknochen typische Schlachtmuster, die auf das Entfernen der fleischreichen Teile hinweisen.

Ohren, Schwanz und Füsse vom Schwein.

„Schnörrle und Öhrle“ mit dicker Erbsensuppe ist übrigens ein traditionelles badisches Winteressen. Die Erbsen weicht man am Vortag ein und kocht sie dann mit Brühe, Suppengrün und einer Zwiebel sowie mit gesalzenem Schweinerüssel und ganzen Ohren mindestens eine Stunde lang. Dann wird das Fleisch rausgenommen, kleingeschnitten, wieder zugeben, und fertig ist die wärmende und sättigende Wintermahlzeit. Welche traditionellen Rezepte mit allen möglichen Körperteilen von Haustieren gibt es in eurer Familie noch? Wir sammeln alles, auch ohne Nachkochen und Fotos, aber natürlich am liebsten mit eurem leckeren Rezeptbeitrag für die November-Challenge.

Portrait Katharina Schäppi
Portrait Renate Ebersbach