Neophyten kennen alle: Invasive Pflanzen aus anderen (Welt-)Gegenden, die sich auf Kosten einheimischer Arten ausbreiten. Aber wisst ihr, was Archaeophyten sind? Das sind Pflanzen, die sich vor 1492 – der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus – durch direkten oder indirekten menschlichen Einfluss in einem neuen Gebiet ausbreiteten. Es sind sozusagen etablierte, eingebürgerte Neophyten. Der Weisse Gänsefuss (Chenopodium album) ist so ein Archaeophyt. Er gelangte in der Jungsteinzeit als Mitläufer der Kulturpflanzen nach Mitteleuropa und ist seither nicht mehr von hier wegzudenken.
Gänsefüsschen überall
Seinen Namen hat der Gänsefuss aufgrund seiner Blätter erhalten, die im Umriss an die Schwimmfüsse von Gänsen erinnern. Gänsefussgewächse lieben tiefgründige, fruchtbare Böden und gedeihen bevorzugt in Getreidefeldern bzw. auf Brachen. Eine einzelne Pflanze bildet bis zu 1,5 Millionen embryoartiger Samen, die rund einen Millimeter gross sind und schwarz glänzen. Und genau diese Samen haben die Archäolog*innen in mehr oder weniger allen jungsteinzeitlichen und bronzezeitlichen Pfahlbausiedlungen gefunden: in Getreidevorräten, in menschlichen Fäkalien oder einfach nur zu Hunderten in den Kulturschichten.
Unkraut oder Urkraut?
Die Anhäufungen und das Vorkommen in Kot verraten uns, dass die Pfahlbauer*innen die Samen des Weissen Gänsefusses sammelten, bevorrateten und assen. Die Funde sprechen hier eine deutliche Sprache, und doch hatten Forscher*innen immer wieder ihre Zweifel, ob man dieses uns heute lästige Unkraut tatsächlich regelmässig gegessen hat. Aus historischer Zeit ist bekannt, dass die Samen des Weissen Gänsefusses in Notzeiten als Mehlersatz dienten und daraus sogenannte «Hungerbrote» hergestellt wurden. Sind also die Samenfunde in den Pfahlbauten Hinweise auf Missernten und Hungersnöte? Oder erlitt der Gänsefuss dasselbe Schicksal wie die Ackererbse, die Saubohne und die Hirse? Wurde, was einst Bestandteil der alltäglichen Ernährung war, mit dem vielfältigeren Lebensmittelangebot nach Kolumbus überflüssig oder zu Viehfutter degradiert? Galten die unreifen Samen mit ihrem Erbsengeschmack bei den Pfahlbauer*innen als Delikatesse oder ass man sie schlicht und einfach, weil sie satt machten? Darüber geben die kleinen Samen leider keine Auskunft.
Zusätzlich zu den Samen kann man auch die Blätter essen – und zwar wie Spinat. Sie haben einen nussigen, leicht kohlartigen Geschmack. Man konnte sie vom Frühsommer bis zum ersten Frost einfach beim Nachhausegehen vom Feldrand oder der Brache mitnehmen.
Gab es schon Steinzeit-Nierensteine?
Der Weisse Gänsefuss enthält Oxalsäure (wie Rhabarber) und giftige Saponine (wie Hülsenfrüchte). Die schaumbildenden Saponine kann man nützen: Zerstossene frische Wurzeln kann man als Seife verwenden. Der Verzehr grösserer Mengen an rohen Blättern empfiehlt sich aber nicht. Immerhin zerfallen die Saponine beim Erhitzen, so dass eine Verwendung wie Spinat absolut unbedenklich ist. Die Oxalsäure ist hartnäckiger: Die Samen muss man rösten, länger eingeweichen oder kochen und abspülen. Ein länger dauernder Überkonsum kann zur Entkalkung der Knochen und zu Nierensteinen führen. Um es so weit kommen zu lassen, muss wohl tatsächlich eine Hungersnot herrschen.
Popeyes Vorfahren
Wer jetzt keine Lust mehr hat, den Weissen Gänsefuss zu kosten, sollte nicht gleich auch dessen Verwandtschaft und Nachkommen von seinem Speiseplan streichen: In Pfahlbaufundstellen sind neben dem Weissen Gänsefuss auch noch weitere Gänsefüsse nachgewiesen. Ob diese «Unkräuter» absichtlich oder unabsichtlich mit den ersten Bauersfamilien nach Europa kamen, wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben. Sie wie auch Gänsefussgewächse aus anderen Weltgegenden waren die Grundlage für eine ganze Palette heute wichtiger Gemüse wie Spinat, Mangold und Randen (Rote Bete), sowie die weniger bekannten Blattgemüse Baumspinat, Gartenmelde und Guter Heinrich.
Gänsefuss vom Frühling bis in den Herbst
Noch sind die Millionen von Samen des Weissen Gänsefusses nicht reif für die Ernte. Aber dessen Blätter sind im Frühling besonders mild im Geschmack. Du findest die Pflanzen mit etwas Glück in einem nicht mit Unkrautvertilgern behandelten Feld, auf Brachen oder an grünen Ackerrändern. Wenn du nicht fündig wirst, kannst du auch Spinat, Gartenmelde oder Guten Heinrich verwenden. Später im Jahr kannst du die Blütenstände all dieser Pflanzen wie Broccoli zubereiten. Und im Spätsommer endlich können wir uns an die Zubereitung eines «Hungerbrotes» aus den Samen von Weissem Gänsefuss wagen.
Vielen Dank an Stefanie Jacomet für die archäobotanischen Informationen zu diesem Blog.