Die Menschen sind Jahrtausende lang jagend und sammelnd umhergezogen; irgendwann wurden sie sesshaft und ernährten sich fortan von dem, was auf den Äckern wuchs und auf der Weide graste – so haben wir das in der Schule gelernt. Hätten die Pfahlbauer*innen der Jungsteinzeit und Bronzezeit sich tatsächlich auf den Verzehr von Kulturpflanzen und Nutztieren beschränkt, wäre ihre Ernährungsweise ganz schön ungesund gewesen. Kohlehydratreiches Getreide, proteinhaltige Hülsenfrüchte, Lein- und Mohnsamen als Lieferanten von Ölen sowie Fleisch als Eiweisslieferant machen zwar satt, enthalten aber nur einen Teil der ebenso lebensnotwendigen Vitamine und Mineralstoffe. Wie kamen also die Menschen damals, als es noch keine Obst- und Gemüsegärten gab, zu einer ausgewogenen Ernährung?
Den Salat pflückte man in der Wildnis
Die Pflanzenreste, die Archäolog*innen bei Ausgrabungen von Pfahlbausiedlungen finden, zeigen, dass die Natur für die Pfahlbauer*innen wie ein grosser wilder Garten war. In der Fundstelle Hornstaad-Hörnle hat man aus einer Kulturschicht des 39. Jhd. v. Chr. 214 Wildpflanzenarten nachgewiesen, von denen fast 80 % potentiell essbar sind. Eine ganze Reihe dieser Pflanzen enthalten überraschend viele wertvolle Inhaltsstoffe: Löwenzahnblätter z. B. sind reich an Vitamin A (sogar im Vergleich zu Möhren) und mit Brennnesselblättern kann man seinen Bedarf an Vitamin K decken, was wichtig ist für die Blutgerinnung im Fall einer Verletzung. Daher sind Wildpflanzen die perfekte Ergänzung zu den Kulturpflanzen. Die zahlreichen Pflanzenreste aus Ausgrabungen machen deutlich, dass die Pfahlbauer*innen diese Nahrungsquelle genutzt und Wildpflanzen gezielt gesammelt haben. Wildgemüse waren somit nicht nur eine gelegentliche Ergänzung des Speiseplans, sondern fester und notwendiger Bestandteil der Ernährung. So wissen wir, dass die Pfahlbauer*innen aus Hornstaad-Hörnle (D) regelrechte Samenvorräte von Weissem Gänsefuss (Chenopodium album), Rübkohl (Brassica campestris), Besenrauke (Descurainia sophia), Hirtentäschel (Capsella bursa-pastoris) und Leindotter (Camelina sativa) angelegt haben.
Jetzt explodiert das essbare Grünzeug
In den letzten Wochen hat es geregnet, und es ist wärmer geworden. Nun explodiert das Grün förmlich in der Landschaft. Wenn wir uns mit offenen Augen in der Natur bewegen, entdecken wir alles mögliche Grünzeug, das die Pfahlbauer*innen gegessen haben und das auch heute noch unseren Speiseplan auf ganz spannende Weise bereichern kann.
Eine häufig nachgewiesene Art, deren Blätter, Triebe oder Wurzeln man jetzt im Frühsommer ernten kann, ist z. B. die Wilde Möhre (Daucus carota). Wer die Wurzeln liebt, sollte sich beeilen, denn sie verholzen im Sommer. Aber Achtung: Diese Pflanze kann man leicht mit ähnlich aussehenden, aber giftigen Arten wie der Hundspetersilie (Aethusa cynapium) verwechseln. Schmackhafte Blattgemüse und Salate kann man auch aus den Blättern von Gemeinem Rainkohl (Lapsana communis) oder Rübkohl (Brassica rapa), Brennnesseln oder Taubnesseln zubereiten. Zum Würzen eignen sich die Blätter von Knoblauchrauke (Alliaria petiolata) oder Gewöhnlichem Dost (Origanum vulgare), sowie verschiedene Minzen, die in den Pfahlbaufundstellen alle sehr häufig nachgewiesen sind.
Auch Baumblätter sowie die jungen Triebe von Fichten und Weisstannen kann man jetzt im Frühling essen. Die Blätter der Rotbuche (Fagus sylvatica) schmecken zudem leicht säuerlich und machen sich daher in einem Blattsalat besonders gut. Tannenspitzen eignen sich eher als würzige Zutat wie in diesem feinen Rezept mit Lammkoteletts.
Süsse Blüten
Anstatt Zucker verwenden wir in vielen Rezepten Honig zum Süssen. Aber es gibt auch Teile von Wildpflanzen, die süsslich schmecken. Das Mädesüss (Filipendula ulmaria) trägt diese Eigenschaft schon im Namen, aber auch Holunderblüten sind süss, und beide schmecken hervorragend roh in Salaten oder in Teig ausgebacken. Ihr könnt aber auch Tee oder eine Tasse heisse Milch damit aromatisieren und selbst im Feierabendbier machen sich Mädesüssblüten gut.
Vom Mädesüss sind zudem die ganz jungen Blätter, die Blütenknospen und selbst die Wurzeln, gekocht oder zu Mehl gemahlen, verwendbar. So eine vielseitig nutzbare Pflanze hat zu Recht verdient, dass sie in der Botanik namensgebend für eine Vegetationseinheit ist: Die Mädesüss-Hochstaudenflur (Filipendulion). Die hierfür typischen Pflanzen wachsen in feuchten Erlen-Eschen-Wäldern, an Bachrändern oder auf wenig gemähten Nasswiesen. Besonders im Frühsommer begeistern uns die Mädesüss-Hochstaudenfluren mit ihrer Blütenpracht. Hast du einen solchen Standort ausfindig gemacht, ist die Chance gross, dass du dort auch auf Brennnesseln, verschiedene Arten von Weiderichen, Kohldisteln, das Zottige Weidenröschen, den Gilbweiderich und den Grossen Wiesenknopf triffst, deren junge Triebe, Blätter oder Blüten ebenfalls essbar sind.
Wenn die Natur neue Rezeptideen liefert
Uns macht es zurzeit riesig Spass, regelmässig hinauszugehen und zu sehen, was in der Natur Neues wächst oder blüht. Sobald wir es sicher bestimmt haben und klar ist, dass eine Pflanze weder giftig noch gesetzlich geschützt ist, probieren wir sie. Schmeckt sie uns, ist das manchmal der erste Schritt zu einer neuen Rezeptidee. Seid Ihr neugierig geworden und wollt auch wissen, wie unsere natürliche Umgebung schmeckt? Dann nichts wie los! Tipps für Apps, Webseiten und Bücher für die Bestimmung und Verwendung der Wildpflanzen findet ihr im Blog zur Artenliste.
Archäofacts
U. Maier/R. Vogt (2001) Botanische und pedologische Untersuchungen zur Ufersiedlung Hornstaad-Hörnle I A. Siedlungsarchäologie im Alpenvorland VI (Stuttgart).