Den grössten Teil seiner Entwicklungsgeschichte ernährte sich der Mensch von dem, was die Natur bot. Er jagte und sammelte. Dann kam die neolithische «Revolution» – ein Prozess, der mindestens 2000 Jahre dauerte. Ihren Ursprung hatte sie in einem Gebiet im Vorderen Orient, das man «Fruchtbarer Halbmond» nennt. Von dort gelangten die ersten Kulturpflanzen um 5500 v. Chr. auf verschiedenen Wegen nach Mitteleuropa: Getreide, Ölpflanzen und Hülsenfrüchte. Pflanzen, die nun sesshafte Bauern und Bäuerinnen aussäten, hegten, pflegten und ernteten. Doch was unterscheidet eigentlich Wild- von Kulturpflanzen?
Die Wilden versamen sich selbst
Die Evolution hat im Lauf von Jahrmillionen eine unglaubliche Vielfalt an Pflanzen hervorgebracht. Um ihren Fortbestand zu sichern, haben diese Pflanzen unterschiedliche Wege gefunden: Sie lassen sich von Tieren fressen (Vogelbeere), haften sich an deren Fell (Kletten), lassen sich vom Wind forttragen (Löwenzahn), werden zu Flugobjekten (Ahorn), bilden Ableger (Erdbeeren) oder lassen Samen zu Boden fallen. Allen frühen Kulturpflanzen gemein ist, dass diese sich in ihrer wilden Form selbst versamten. Die reifen Samen von Süssgräsern, wildem Mohn, wildem Lein und wilden Hülsenfrüchten fallen zu Boden und keimen im nächsten Jahr wieder aus. Diese Wildformen kommen alle im «Fruchtbaren Halbmond» vor: Das Gebiet in Form einer Mondsichel erstreckt sich vom Persischen Golf mit dem heutigen Irak über Südostanatolien, den Norden von Syrien, den Libanon, Israel, Palästina nach Jordanien. Die nomadisch lebenden Sammler*innen brauchten hier nur jedes Jahr zur rechten Zeit am rechten Ort vorbeizustreifen, um die reifen Samen essbarer Pflanzen abzulesen. Es gab damals vor allem von Wildgetreide grosse Bestände, da das Klima feuchter als heute war. Kamen sie zu spät, hatten die Ähren, Kapseln und Hülsen ihre Saat bereits gestreut – die Menschen gingen leer aus.
Selbstaussaat unerwünscht
Was dann geschah, ist schwierig im Detail nachzuvollziehen und doch eine riesige Errungenschaft der Menschheit: Man begann, gezielt Samen auszusäen. Vielleicht jene, die noch in den Fruchtständen hingen und nicht zu Boden gefallen waren. Dies als Folgen von natürlichen Mutationen, die ein Zerfallen der Ähren oder ein Aufspringen der Samenkapseln verhindert hatten und die sich die Menschen nun zu Nutze machten. Durch fortwährende Auslese jener Samen, die am längsten in den Ähren, Hülsen und Kapseln verweilten, entwickelten sich die Kulturformen. Die Selbstaussaat der Wildpflanzen wurde also durch Auslese weggezüchtet.
Fertig mit dem Winterschlaf für Pflanzen
Ein zweites Merkmal unterscheidet Kultur- von Wildpflanzen: Sie machen keine Keimruhe mehr. Ein im Sommer reif werdender wilder Linsensamen, der sich selbst aussät, keimt erst im nächsten Frühling. Würde er sofort zu wachsen beginnen, wäre es im Winter um ihn geschehen. Samen der Wildpflanzen verfügen deshalb über einen eingebauten Keimschutz. Zum einen haben sie eine harte Samenhülle, die den Keimling im Innern während Monaten vor Nässe schützt. Zum andern wird die Keimung erst durch einen Temperaturreiz (Kälte oder Hitze) ausgelöst. Diese sogenannte «Dormanz» züchteten die Bewohner*innen des «Fruchtbaren Halbmondes» den Wildpflanzen ebenfalls weg. Nun lag es an ihnen, die Samen zum rechten Zeitpunkt in die Erde zu legen. Durch die allmählich dünner werdende Samenhülle quollen sie sofort auf und begannen zu spriessen. Die Kulturpflanze war geboren. Fortan waren diese Pflanzen vom Menschen abhängig und der Mensch von ihnen.
Nichts Neues im Westen
Warum aber haben alle von den Pfahlbauer*innen angebauten Nutzpflanzen ihren Ursprung im «Fruchtbaren Halbmond»? Wieso haben nicht auch hiesige Jäger*innen und Sammler*innen einheimische Wildpflanzen zu ihren Gunsten kultiviert? In unserem damals weitgehend bewaldeten Gebiet gab es nur wenige einjährige Pflanzen, die sich selbst befruchten. Alle frühen Kulturpflanzen aus dem «Fruchtbaren Halbmond» sind von Natur aus Selbstbefruchter, was ihre Züchtung und Vermehrung deutlich vereinfachte. Die Fortpflanzung über nur ein Elternteil ermöglicht es einer einzelnen Pflanze, sich zu vermehren und – durch die Menschen gesteuert – ausserhalb des natürlichen Verbreitungsgebietes weiterzubestehen. Ausserdem geben Selbstbefruchter spontane Mutationen ihres Erbgutes unverändert an die kommenden Generationen weiter, was die künstliche Selektion von Pflanzen auf bestimmte Eigenschaften erst ermöglicht.
So hielten also Kulturpflanzen aus dem Nahen Osten Einzug auf hiesigen Äckern, während die heimische Flora wild blieb. Sicher war es bereits eine grosse Herausforderung, die Ankömmlinge aus einer anderen Klimazone in unseren kühleren Gefilden anzubauen. Die Kichererbse, von der es im Vorderen Orient und im Mittelmeerraum seit der Jungsteinzeit ebenfalls eine Kulturform gab, hat es nicht bis zu uns geschafft. Unsere Vegetationsperiode ist zu kurz, um die Samen bis zur Reife zu bringen. Die ersten in Mitteleuropa angebauten Kulturpflanzen Emmer, Einkorn, Weizen, Gerste, Lein, Mohn und auch Erbse hingegen ertragen Kälte, sogar Frost, können daher früh ausgesät werden und nutzen die langen Sommertage zur Reife. Die später in der Bronzezeit hinzugekommenen Linsen und die Hirse hingegen, sind bereits etwas heikler im Anbau. Sie sind frostempfindlich und brauchen mehr Pflege im Jungstadium, dafür punkten sie mit einer kürzeren Wuchszeit von der Aussaat bis zur Ernte.
Selektion fördert die Vielfalt
Nach dem Schritt von der Wild- zur Kulturpflanze prägten Bäuerinnen und Bauern ihre Schützlinge weiter. Durch eine fortwährende Selektion, d. h. Auslese bestimmter Eigenschaften, haben sie die verschiedenen Sorten weiterentwickelt. Bitterstoffe haben sie zum Beispiel weggezüchtet, und aus Wegwarte und Lattich entstanden Salate. Kleine Samen wurden immer grösser, wie bei den Ackerbohnen (schau dir unseren Blogbeitrag zu den Hülsenfrüchten an), die Anzahl Körner pro Getreideähre nahm stetig zu, und der Flachs wurde auf lange, unverzweigte Stängel hin selektiert, damit man daraus Fasern gewinnen konnte. Über die Jahrhunderte und Jahrtausende entwickelte sich eine Vielfalt an Formen, Farben, Geschmack, Lager- und Kocheigenschaften, die angepasst waren an das örtliche Klima und die jeweiligen Ernährungsgewohnheiten der Menschen. Dies ist eine grossartige Errungenschaft der Menschheit, die aber zunehmend gefährdet ist. Heute haben wir andere Ansprüche an unsere Lebensmittel: Maschinen sollen sie ernten und verarbeiten können, sie sollen einheitlich in Form und Grösse sein, gut zu transportieren und im Gemüseregal lange attraktiv aussehen. Der Geschmack steht dabei hinten an und auch die Vielfalt springt über die Klippe. Gegensteuer geben Organisationen wie ProSpecieRara oder Arche Noah, die sich um die Erhaltung und Vermehrung von alten Kulturpflanzen kümmern und sie Gärtner*innen, Landwirt*innen und Konsument*innen wieder zugänglich machen. Dank diesem Engagement bleibt ein wichtiges Stück Kulturgeschichte mit seiner grossen Farben-, Formen- und Geschmacksvielfalt bewahrt. Beim Kochen und der Rezeptkreation für PalaFitFood können wir auf solche urtümlicheren Sorten zurückgreifen und bekommen dadurch eine bessere Vorstellung davon, wie die Urgeschichte schmeckte.
Der Preis für den Fortschritt
Die Kulturpflanzen waren ein grosser Schritt für die Menschheit. Sie garantierten regelmässige Ernten, ermöglichten es, grössere Vorräte für den Winter anzulegen und sicherten damit die Ernährung. Dies führte zu einem stetigen Bevölkerungswachstum ab der Einführung des Ackerbaus. Doch auch dieser Fortschritt hatte zwei Seiten. Die Bauern und Bäuerinnen waren ortsgebunden und abhängig vom Wetter. Ihr Speiseplan war eintöniger als jener der Sammler*innen. Über die negativen Folgeerscheinungen der neolithischen Revolution und der Sesshaftigkeit berichten wir in einem späteren Blogbeitrag.
Im Mai kochen und backen wir mit Kultur- und Wildpflanzen. Wir vereinen beides auf einem Teller zu leckeren Gerichten. Mach auch du mit bei unserer Mai-Challenge und verwende mindestens eine Kulturpflanze und eine Wildpflanze aus den Challenge-Zutaten.
Vielen Dank an Stefanie Jacomet für die fachlichen Inputs, Ergänzungen und Korrekturen.
Archäofacts
Skript zu einer Vorlesung am IPNA, Uni Basel, zur «Domestikation» von Tieren und Pflanzen von Stefanie Jacomet, F. Antolín und B. Stopp.